Was wir zur Lage im al-Schifa-Krankenhaus wissen - und was nicht
Bei den Kämpfen im und um das al-Schifa-Krankenhaus in Gaza dokumentieren beide Seiten das Grauen. Und verbreiten jene Fotos und Videos, die ihnen nutzen. Was wir wissen – und was nicht.
Es sind Bilder, die einen nicht unberührt lassen können. Ein Vater, der schreiend die Leiche seiner Tochter aus den Trümmern trägt; eine halb nackte Teenagerin, leblos auf der Ladefläche eines Geländewagens abgeladen; ein kleines Mädchen mit amputiertem Arm; ein Haufen verbrannter Kinderleichen. Der Krieg macht das Unvorstellbare plötzlich vorstellbar, lässt es Wirklichkeit werden.
Doch Krieg ist immer auch ein Konflikt um Informationen, um die Deutungshoheit. Vor allem der aktuelle Krieg im Nahen Osten wird wie kein zweiter in den sozialen Medien ausgetragen. Während die Kämpfe im Gazastreifen toben, der von der Außenwelt abgeschnitten ist, kaum noch Journalisten vor Ort sind, verbreitet sowohl die Terrororganisation Hamas auf ihren Telegram-Kanälen als auch die israelische Armee auf X (ehem. Twitter) täglich Bilder und Videos von den Gräueln, die die jeweils andere Seite verursacht haben soll.
Viel zu oft werden diese Darstellungen ohne die nötige Einordnung online verbreitet, obwohl sie nicht überprüft werden können. Nirgendwo zeigt sich das Dilemma so deutlich wie in diesen Tagen, in denen im al-Schifa-Krankenhaus gekämpft wird, dem größten in Gaza.
Israel zufolge verbirgt sich unter dem Gebäude eines der größten militärischen Kommandozentren der Hamas. Das Spital werde also als „ziviler Schutzschild“ genutzt. Zum Beweis sollen Fotos von gefundenen Hamas-Waffen dienen. Ob die Bilder echt oder gestellt sind, kann niemand überprüfen. Auch eine BBC-Journalistin nicht, die am Mittwoch sichere Bereiche im al-Schifa besichtigen durfte.
Selbiges gilt für die Frage, ob die Hamas das Krankenhaus wirklich für ihre Zwecke missbraucht. Immerhin: Norbert Jessen, der für den KURIER aus Israel berichtet, besuchte das al-Schifa im Jahr 2004 selbst – und bekam dabei auch einen großräumigen Bunker zu Gesicht.
Mitarbeiter erklärten ihm damals, dass dort kurz zuvor noch Führungspersönlichkeiten der Hamas Unterschlupf gesucht hatten. Von einer „Befehlszentrale“ war zwar nicht die Rede; doch wo sich Befehlsträger aufhalten, ist die Austeilung von Befehlen mehr als zu erwarten.
Fakt ist: Zivilisten leiden
Zweifellos ist dagegen, dass die Zivilisten im al-Schifa am meisten unter den Gefechten leiden. Die wenigen verbliebenen Fotografen und Journalisten – allesamt von der französischen Nachrichtenagentur AFP – zeigen Bilder des Elends, das sich in dem Spital abspielt. Verletzte, darunter etliche Kinder, liegen auf provisorischen Decken nebeneinander auf dem Boden, Strom gebe es ebenso wenig wie einen Nachschub an Wasser, Nahrung oder Medizin.
Die israelische Armee dementiert das vehement. Sie verbreitet seit Tagen Bilder von Hilfslieferungen: Stapeln von Kartons, auf denen in riesigen Buchstaben gut lesbar „Medizin“ oder „Babynahrung“ steht. „Die Versorgung von Zivilisten bleibt eine unserer Prioritäten“, heißt es. Allerdings kann niemand aktuell bestätigen, ob die Kartons auch wirklich enthalten, womit sie beschriftet sind.
Viele Fragen bleiben bis heute ungeklärt: Wurden bei den Hamas-Massakern am 7. Oktober wirklich 40 Neugeborene geköpft? Starben die meisten Hamas-Geiseln wirklich schon durch israelische Luftangriffe? Wer feuerte die Rakete ab, die fast 500 Menschen im al-Ahli-Krankenhaus getötet haben soll? Und wurde wirklich, wie vom israelischen Präsidenten Isaac Herzog behauptet, eine arabische Version von "Mein Kampf" in einem Kinderzimmer in Gaza gefunden?
Manch ein Social-Media-Profil wird schon heute Antworten liefern. Die Wahrheit dürfte aber – wenn überhaupt – auf sich warten lassen, bis der Krieg vorbei ist.
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