Taliban verkünden ihren Sieg: Protokoll einer Übernahme - und wie es jetzt weitergeht

Taliban verkünden ihren Sieg: Protokoll einer Übernahme - und wie es jetzt weitergeht
Afghanistans Präsident flüchtete. Kabul soll den Taliban "friedlich" übergeben werden. Erwartbare Folgen: mittelalterliche Gesetze und Flüchtlingsströme.

Es war nur mehr eine Frage der Zeit: Nachdem die Taliban im Eiltempo sämtliche Provinzhauptstädte in Afghanistan unter ihre Gewalt gebracht haben, sind sie am Sonntag bis zur Hauptstadt Kabul vorgerückt. Gegen Mitternacht verkündete die radikalislamische Gruppierung ihren Sieg. 

Hier ein Überblick über die Ereignisse, weiter unten lesen Sie noch einen Ausblick. 

  • Am Sonntag um 6 Uhr morgens (Ortszeit) nehmen die Taliban die ostafghanische Stadt Jalalabad ein - offenbar kampflos. Der Gouverneur hat sich ergeben. Damit ist Kabul, die Hauptstadt des Landes, zu dem Zeitpunkt die letzte verbliebene große Stadt in Regierungshand.
     
  • US-Präsident Joe Biden hat bereits am Abend zuvor angekündigt, die Zahl der US-Soldaten, die bei der Evakuierung der Hauptstadt unterstützen sollen, von 3.000 auf 5.000 erhöht wird. 
     
  • Auch die deutsche Regierung bereitet unter Hochdruck eine Evakuierungsaktion vor. Deutsche Staatsbürger und afghanische Ortskräfte sollen zu Wochenbeginn außer Landes gebracht werden. 
     
  • Um 9.45 Uhr (unserer Zeit, Ortszeit 12.15 Uhr) die Alarmmeldung: "Taliban starten Angriff auf Kabul". Die Islamisten stoßen von allen Seiten vor, berichtete das afghanische Innenministerium.
     
  • Die Taliban-Führung in Doha dementiert den Angriff: Die Kämpfer seien angewiesen worden, Gewaltanwendung zu vermeiden und nicht in die Hauptstadt vorzudringen. Sie sollten an den Toren der Stadt Stellung beziehen. Allen Menschen, die Kabul verlassen wollten, werde ein sicherer Abzug gewährt. Frauen sollten sich an geschützte Orte begeben.
     
  • Unterdessen gibt es in den sozialen Medien Berichte, wonach Taliban-Kämpfer sehr wohl in die Stadt vorgedrungen seien. Es kommt zu chaotischen Szenen. Viele Menschen versuchen, ihr Erspartes von der Bank abzuheben, Lebensmittel zu kaufen und zu ihren Familien heimzukehren. 
     
  • Am frühen Nachmittag wendet sich Afghanistans Innenminister Abdul Sattar Mirsakwal mit einer aufgezeichneten Ansprache an die Bevölkerung: Es werde eine "friedliche Übergabe" und "keinen Angriff auf die Stadt" geben. 
     
  • Die ersten internationalen Reaktionen kommen:
    • Deutschlands Innenminister Horst Seehofer sagt: "Was im Moment in Afghanistan geschieht, ist ein Desaster." Er rechnet mit einer neuen Fluchtbewegung nach Europa. 
    • Italiens Ex-Premier Matteo Renzi bezeichnet den Rückzug der USA aus Afghanistan als "historischen Irrtum", und fragt angesichts der Übernahme der Taliban: "Wie kann die freie Welt eine Niederlage eines solchen Ausmaßes hinnehmen?"
       
  • Österreich bleibt bei seiner Linie, nach Afghanistan abschieben zu wollen. Auch, wenn Experten das als extrem unrealistisch einschätzen. Innenminister Karl Nehammer und Außenminister Alexander Schallenberg wollen im September eine Afghanistan-Konferenz veranstalten (mehr dazu). 
     
  • Während westliche Staaten sich bemühen, ihr Personal außer Landes zu bringen, gibt Russland bekannt, dass sie ihre Botschaft vorerst nicht evakuieren will. "Der Botschafter und unsere Mitarbeiter nehmen ihre Aufgabe in aller Ruhe wahr", sagt ein Sprecher des Außenministeriums. 
     
  • Ein Taliban-Sprecher meldet sich zu Wort: Befürchtungen, die Taliban würden ähnlich wüten wie zwischen 1996 und 2001 wischte er weg: Es werde eine Regierung angestrebt, an der alle Afghanen beteiligt seien. Er versicherte, dass die Rechte von Frauen respektiert würden. Strafen wie Hinrichtungen, Steinigungen und Amputationen müssten von Gerichten entschieden werden. Medien solle eine kritische Berichterstattung erlaubt werden.
     
  • Gegen 18 Uhr (Ortszeit) berichten dann lokale Medien, Präsident Ashraf Ghani habe bereits das Land verlassen. Zunächst hieß es, er sei nach Tadschikistan unterwegs. Später stellte sich heraus: Er reiste nach Taschkent, die Hauptstadt von Usbekistan.
     
  • Angesichts der drohenden Flüchtlingsbewegung will die Türkei ihre Kooperation mit Pakistan stärken. "Wir sind entschlossen, alle zur Verfügung stehenden Mittel zu mobilisieren, um erfolgreich zu sein", sagt Präsident Recep Tayyip Erdogan. 
     
  • In Kabul geht es weiter Schlag auf Schlag: Gegen 20.45 Uhr (Ortszeit) nehmen die Taliban nach eigenen Angaben den Präsidentenpalast in Kabul ein. "In den nächsten Tagen" wollen die Taliban die Kontrolle über Kabul übernehmen. 
     
  • Für die geplante "friedliche Übernahme" wird ein Koordinierungsrat gegründet, teilt Ex-Präsident Hamid Karzai auf Facebook mit. Der Rat solle ein Chaos vermeiden. 
     
  • Der afghanische Verteidigungsminister übt unterdessen Kritik an der Flucht von Präsident Ghani. "Sie haben uns die Hände hinter unserem Rücken gefesselt und das Land verkauft", schreibt Bismillah Khan Mohammadi auf Twitter. Ghani und seine Gruppe seien verdammt.
     
  • Ghanis Vize-Präsident Amrullah Saleh erklärt auf Twitter, er wolle nicht mit dem militant-islamistischen Taliban zusammenarbeiten, er werde sich nie beugen. Berichten zufolge floh er selbst ins Panjir-Tal, wie viele weitere Sicherheitskräfte auch. Die Provinz stand zuletzt unter Kontrolle der Regierung. 
     
  • Der britische Premierminister Boris Johnson warnt westliche Staaten davor, die Taliban ohne vorherige Absprache als neue Regierung Afghanistans anzuerkennen. Es sei "sehr wichtig, dass der Westen zusammenarbeitet, um dieser neuen Regierung - ob es Taliban sind oder jemand anderes - klarzumachen, dass niemand will, dass Afghanistan wieder zur Brutstätte für Terrorismus wird", betont Johnson. 
     
  • Am Montag soll in New York eine Sondersitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zu Afghanistan stattfinden. 
     
  • In der Nacht sind laut Medien in Teilen der Hauptstadt Schüsse und mehrere Explosionen zu hören. Mehr als 40 Menschen sollen laut Angaben eines Krankenhauses bei Kämpfen am Stadtrand verletzt worden sein. Details wurden nicht genannt.
     
  • Erste Videos (siehe unten) zeigen die Taliban im Präsidentenpalast. Sie bereiten sich laut Berichten darauf vor, das "Islamische Emirat Afghanistan" zu verkünden.
  • Um 22.30 Uhr (Ortszeit) meldet sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani auf Facebook: Er habe das Land verlassen, um - angesichts der drohenden Machtübernahme - Blutvergießen zu vermeiden. Zu seinem Aufenthaltsort äußert er sich nicht. Laut dem TV-Sender Al Jazeera ist er nach Usbekistan gereist. 
     
  • Gegen Mitternacht (Ortszeit) verkündete Taliban-Repräsentant Mullah Baradar den Sieg: "Wir haben einen beispiellosen Sieg errungen. Wir sollten vor Allah Demut zeigen. Jetzt geht es darum, unserem Volk zu dienen, es zu schützen und seine Zukunft zu sichern, so gut es uns möglich ist."

    Es naht das "Islamische Emirat"

    Fast zwei Jahrzehnte ist es her, dass die Taliban von US-Truppen aus der afghanischen Hauptstadt Kabul vertrieben wurden. Zwei Jahrzehnte waren internationale Truppen und Organisationen im Einsatz – als Kämpfer, als Ausbildner. Wofür?

    Am Sonntag standen die Taliban vor den Toren Kabuls. Nicht einmal vier Monate, nachdem der Abzug aller internationaler Truppen aus dem Land begonnen hat. Eine Provinzhauptstadt nach der anderen fiel de facto ohne Gegenwehr der afghanischen Regierungstruppen an die islamistische Terrormiliz.

    Videos auf Social Media zeigen etwa, wie Regierungstruppen in den Iran fliehen, zum US-Erzfeind – samt Kriegsgerät, dass ihnen von den USA zur Verfügung gestellt wurde. "Wenn man sieht, wie die Taliban in kurzer Zeit das Land zurückerobern, muss man sagen: Der Einsatz ist sinnlos gewesen", sagt eine deutsche Bundeswehr-Soldatin, die in Afghanistan stationiert war, der Süddeutschen Zeitung.

    Machtwechsel mit gravierenden Folgen

    Die afghanische Regierung hatte am Sonntag eine "friedliche Machtübergabe" angekündigt. Die Sicherheit der Bevölkerung soll gewahrt werden, sagte Innenminister Abdul Sattar Mirsakwal. Die Taliban, die am Sonntag die Großstädte Jalalabad und Mazar-i-Sharif einnahmen, verlautbarten, für Friedensgespräche zur Verfügung zu stehen. Die Verhandlungen sollen in Doha stattfinden.

    Diplomatenkreisen zufolge ist der ehemalige afghanische Innenminister und Botschafter in Deutschland, Ali Ahmad Jalali, im Gespräch, eine Übergangsregierung zu führen. Noch-Präsident Ashraf Ghani verließ Afghanistan noch am Sonntag.

    Daraufhin drangen die Taliban laut eigenen Angaben in den Präsidentenpalast in Kabul ein, übernahmen die Kontrolle über das Gebäude und verkündeten ihren Sieg.

    Taliban verkünden ihren Sieg: Protokoll einer Übernahme - und wie es jetzt weitergeht

    Man wolle das Land übernehmen und dabei keine ausländischen Botschafter oder Staatsbürger angreifen. Diese sollen ihre Arbeit ungestört fortsetzen können und das Land nicht verlassen.

    Was würde die Machtübernahme für die afghanische Bevölkerung bedeuten?

    Ein Taliban-Sprecher behauptete gegenüber der BBC: Die Taliban würden die Rechte von Frauen respektieren, ihnen Zugang zu Bildung und Arbeit gewähren. Strafen wie Hinrichtungen, Steinigungen und Amputationen müssten von Gerichten entschieden werden. Medien solle eine kritische Berichterstattung erlaubt werden. Man wolle "mit jedem Afghanen zusammenarbeiten" und ein "neues Kapitel des Friedens, der Toleranz" aufschlagen.

    29. Februar 2020
    USA und Taliban unterzeichnen ein Abkommen, das einen Abzug der NATO-Truppen vorsieht. Die Taliban versichern im Gegenzug, dass von ihnen keine Terrorgefahr mehr ausgeht

    12. September 2020
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    13. August 2021
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    14. August 2021
    Die Taliban stehen vor den Toren der Hauptstadt Kabul. Die Regierung kündigt eine friedliche Machtübergabe an, die Taliban sind  gesprächsbereit. Die Verhandlungen sollen in Doha stattfinden

    Zurück ins Mittelalter

    In Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden, ist die Realität eine andere. Mädchenschulen werden geschlossen, Frauen dürfen ohne männliche Begleitung das Haus nicht verlassen. Unverheiratete Frauen zwischen 15 und 45 Jahren werden mit Kämpfern zwangsverheiratet.

    Für Homosexuelle sind zwei (Todes-)Strafen vorgesehen: Entweder werden sie gesteinigt, oder sie müssen hinter einer drei Meter hohen Mauer stehen, die auf sie fällt.

    Im "Islamischen Emirat" der Taliban wird die Scharia gelten: eine radikalislamische Rechtslehre, die das Land ins Mittelalter zurückkatapultiert. Es ist nicht verwunderlich, dass sich Binnenflüchtlinge in Kabul, der letzten Bastion der Regierung, ballen. Sie campieren in Parks und auf öffentlichen Plätzen. Laut UNO-Angaben sind seit Mai 250.000 Afghanen auf der Flucht, seit Anfang des Jahres 400.000.

    Österreichs Regierung hat angekündigt, Flüchtlinge vor Ort – in Afghanistans Nachbarstaaten – versorgen zu wollen.

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