Ägypten im Ausnahmezustand
Die Unruhen in Ägypten haben sich ausgeweitet. Heute wurde für einen Monat der Ausnahmezustand über das Land am Nil verhängt. Das Präsidialamt in Kairo setzte den Beginn für Mittwoch 16.00 Uhr (MESZ) an - ebenso wurde für die Hauptstadt und zwölf Provinzen eine nächtliche Ausgangssperre verhängt.
Auslöser der Krawalle war die Räumung der Protestlager in Kairo am Morgen. Die Polizei ist dabei wenig zimperlich vorgegangen: Seit Tagen harrten dort Anhänger Mohammed Mursis aus. Bewohner des Viertels Nasr-City berichteten, die Einsatzkräfte hätten rund um die Zeltstadt der Anhänger des Ex-Präsidenten Tränengas-Granaten abgefeuert. Die Polizei warnte die Anhänger Mursis davor, „Frauen und Kinder als menschliche Schutzschilde einzusetzen“, wollte aber allen Leuten ohne Haftbefehl freien Abzug ermöglichen. In den Abendstunden verließen Mursi-Anhänger das letzte Lager nahe der Rabaa-al-Adawiya-Moschee.
In den Abendstunden hat die ägyptische Übergangsregierung die Zahl der Todesopfer deutlich nach oben korrigiert. Landesweit seien 278 Menschen getötet worden, darunter 43 Polizisten, teilte das Gesundheitsministerium mit. Die Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi hatten dagegen schon am Nachmittag von mehr als 2200 Toten und 10.000 Verletzten gesprochen.
Auch ein britischer Kameramann befindet sich unter den Toten. Mick Deane ist bei der Berichterstattung über die laufenden Proteste in der ägyptischen Hauptstadt Kairo erschossen worden. Das bestätigte sein Sender Sky News auf seiner Webseite. Der Rest des Teams sei unverletzt hieß es. Auch weitere Journalisten wurden nach unbestätigten Berichten im Zuge der Proteste getötet oder verletzt.
Das ganze Land in Aufruhr
Indes wurden von Polizei und Armee als Vorsichtsmaßnahme nach der Lager-Räumung Straßensperren auf den Straßen rund um den internationalen Flughafen von Kairo errichtet. Einige Flüge seien mit Verspätung gestartet, da die Passagiere an den Straßensperren aufgehalten worden seien.
Worum gekämpft wird, präzisiert eine Al Jazeera-Reporterin: "Dieser Kampf ist größer als das, was man sieht. Es ist ein Kampf um die Zukunft des Landes - und etwas, das den Verlauf der ägyptischen Revolution, die seit zwei Jahren dauert, beeinflussen wird", schreibt Rawya Rageh aus Kairo.
Bilder der Räumung
Proteste seit Juli
Seit Mursis Sturz am 3. Juli wurden bei gewaltsamen Zusammenstößen zwischen ägyptischen Sicherheitskräften und den Islamisten sowie bei Auseinandersetzungen zwischen Mursi-Anhängern und -Gegnern mehr als 250 Menschen getötet.
Die US-Regierung forderte die neue Staatsführung in Ägypten auf, ihre Kritiker ungehindert demonstrieren zu lassen und damit weiteres Blutvergießen zu vermeiden. "Das ist ein grundlegendes Element, um den demokratischen Prozess voranzubringen", sagte US-Außenamtssprecherin Marie Harf am Dienstag in Washington.
UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat die Gewalt bei der Räumung von Protestlagern in Kairo "auf das Schärfste" verurteilt. Er habe erst vor kurzem seinen Aufruf an alle Seiten zur Mäßigung bekräftigt, hieß es in einer am Mittwoch veröffentlichten Erklärung. Er bedauere es, "dass die ägyptischen Stellen stattdessen Gewalt gegen als Reaktion auf andauernde Demonstrationen gewählt haben". Die große Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung wolle, dass sich ihr Land friedlich in Richtung Demokratie und Wohlstand bewege, betonte Ban Ki-moon weiter. Er rief alle Ägypter auf, angesichts der Eskalation der Gewalt ihre Bemühungen darauf zu konzentrieren, eine echte Aussöhnung im Land zu fördern, die alle einschließe.
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan forderte die Vereinten Nationen und die Arabische Liga zum Handeln in der Ägypten-Krise auf. Es seien sofortige Schritte nötig, um "das Massaker zu stoppen", erklärte das Amt des Regierungschefs am Mittwoch. Das Schweigen der internationalen Gemeinschaft habe den Weg für das gewaltsame Vorgehen der ägyptischen Behörden bereitet. Der türkische Präsident Abdullah Gül bezeichnete das Vorgehen der ägyptischen Sicherheitskräfte gegen Anhänger Mursis als völlig inakzeptabel.
Die EU rief die Konfliktparteien in Ägypten zur "maximalen Zurückhaltung" auf. Berichte über Tote und Verletzte nach Räumung der Protestcamps seien "extrem beunruhigend", sagte ein Sprecher der EU-Kommission am Mittwoch in Brüssel. Die EU verfolge die Ereignisse in Ägypten "mit großer Sorge". Der britische Außenminister William Hague verurteilte den Einsatz von Gewalt bei der Räumung von Protestlagern in Ägypten. Er sei enttäuscht, dass kein Kompromiss gefunden worden sei, sagte Hague.
Das ursprüngliche Ziel der Muslimbrüder war eine Reform der Gesellschaft nach islamischen Moralvorstellungen: Die Bruderschaft ("Ikhwan") wurde 1928 von dem ägyptischen Volksschullehrer Hassan al-Banna (1906-1949) gegründet. Die ägyptischen Eliten in Politik und Wirtschaft galten den Muslimbrüdern als korrupt, dekadent und pro-westlich, die Geistlichen im Staatsdienst als unglaubwürdig. Erklärtes Ziel war daher die Errichtung eines islamischen Staates mit islamischer Rechtsprechung (Scharia).
In ihren Anfängen traten die Muslimbrüder militant auf, später schworen sie der Gewalt ab. In Ägypten blieben sie lange verboten und arbeiteten im Untergrund. Der Sturz von Langzeitpräsident Hosni Mubarak 2011 eröffnete den Muslimbrüdern jedoch neue Möglichkeiten. Im Juni 2012 gewann ihr Kandidat Mohammed Mursi die Präsidentenwahl.
Einfluss hatte die Bruderschaft in Ägypten auch wegen ihres sozialen Engagements gewonnen. Nach Mursis Amtsantritt aber wuchs der Unmut in der Bevölkerung, weil sich die wirtschaftliche Lage weiter verschlechterte. Zudem mussten sich die Islamisten vorhalten lassen, sie seien ebenso undemokratisch und korrupt wie seinerzeit Mubarak. Nach Massenprotesten setzte die Armee Mursi Anfang Juli ab. Zwischen Anhängern und Gegnern tobt seitdem ein blutiger Machtkampf. Mursi sitzt an einem unbekannten Ort in Untersuchungshaft.
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