Umweltmediziner: "Die Spätfolgen der Pandemie werden jetzt erst sichtbar"

Eine Frau greift sich gequält ins Gesicht.
Viele unspezifische Krankheiten, die es früher auch gab, werden jetzt mit Covid erklärt.

Kürzlich sorgte ein Bericht chinesischer Forschender für Aufsehen: Sie berichteten im New England Journal of Medicine darüber, dass aktuell im Land deutlich mehr Babys mit seitenverkehrten Organen geboren werden. Vermutet wird einen Zusammenhang mit Covid-19. Solide Belege für diese These gibt es nicht. Der Bericht lässt aber die Diskussion um Covid-Spätfolgen aufflammen.

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"Anhand der chinesischen Untersuchung wurde erneut gezeigt, wie häufig und vielfältig die Auswirkungen von Covid-19 sind", erklärt Hans-Peter Hutter, stv. Leiter der Abteilung für Umwelthygiene und Umweltmedizin am Zentrum für Public Health an der MedUni Wien im Gespräch mit dem KURIER.

Viele Spätfolgen der Infektion würden jetzt in aller Deutlichkeit sichtbar: "Virale Infektionen können ein sehr breites Spektrum an Effekten auslösen, an die man oft nicht einmal irgendwie denken würde."

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Langzeitfolgen können sich im Beschwerdemuster unterscheiden

Zu bedenken sei, dass die verschiedenen Mutationen von der Wuhan-Variante über Delta bis Omikron nicht nur unterschiedliche akute Symptome ausgelöst haben. Auch ihre Langzeitfolgen könnten sich im Beschwerdemuster unterscheiden. Hutter fordert dazu auf, die chronischen Effekte stärker in den Fokus zu rücken: "Die Diskussion dreht sich verkürzt oft um die Belegung von Spitals- und Intensivbetten und die Todesfälle. Es geht aber auch darum, dass unsere Gesellschaft reibungslos funktioniert – wir haben unglaublich viele Krankenstände, nicht wenige davon infolge von anhaltenden Beeinträchtigungen nach Covid-19 und anderen Infektionskrankheiten."

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Erst kürzlich hat eine im renommierten PLOS One veröffentlichte Studie gezeigt, dass 14 Prozent der US-Amerikaner zumindest für eine Weile an Long Covid litten, 7 Prozent leben noch immer mit den Folgen. In einer anderen Studie konnte die Post-Covid-Ambulanz der deutschen Uni-Klinik Jena nachweisen, dass betroffene Patienten auch kognitive Beeinträchtigungen haben, und bei geistigen Anforderungen schneller müde werden.

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"Das Spektrum reicht von leichten bis quälenden Symptomen – und das beeinflusst nicht nur die Lebensqualität der Betroffenen , sondern das gesamte Umfeld", erklärt Hutter. Die Studienlage zu Sars-CoV-2 sei inzwischen immens: "Es gibt Zehntausende Studien, es ist schlicht unüberschaubar geworden".

Menschen suchen immer nach Ursachen

Gleichzeitig betont der Umweltmediziner, dass es schon vor der Pandemie bestimmte Syndrome mit chronischen, unspezifischen Symptomen gab. "Auch früher gab es Patienten mit nicht eindeutig zuordenbaren Gesundheitsbeeinträchtigungen. Das Spektrum reicht von hormonellen über neurologische Störungen, allergieähnliche Beschwerden bis hin zu chronischen Schmerzzuständen. Die Suche nach einer Ursache ist dabei sehr aufwendig und oft erfolglos. Simple Zuordnungen ohne detaillierte Abklärung möglicher Umweltfaktoren sind fehl am Platz."

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Menschen haben ein starkes Bedürfnis, Ursachen für ihre Leiden zu finden, sagt Hutter: "Die Ungewissheit lässt keine Ruhe." Gerade bei umweltassoziierten Erkrankungen sei es aber extrem schwierig, dahinterzukommen, weil es oft ein "Mischmasch" aus einer biologischen und einer psychischen Komponente sei. Man müsse auch zwischen direkten Folgen wie z. B. jenen, die durch eine Gewebszerstörung auftreten, und indirekten Folgen unterscheiden, bei denen die Infektion als Auslöser fungiert.

Schnelle Rückschlüsse sind problematisch

Deshalb warnt der Umweltmediziner vor allzu schnellen Rückschlüssen: "Nicht selten passiert es, dass selbst Ärzte aus eigenen Beobachtungen gleich Rückschlüsse auf die gesamte Bevölkerung ziehen." Letztendlich seien das aber nur Hinweise und es brauche eine epidemiologische Betrachtung der Gesamtbevölkerung, um mit Sicherheit Schlüsse ziehen zu können.

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