15 Jahre lang dachte sie, es seien Depressionen. Dann die Diagnose: ADHS
Es gab Tage, da ist Margot Lepuschitz nur gerannt. Von der Küche in den Keller, vom Schlafzimmer ins Kinderzimmer. Die schmutzige Wäsche unterm Arm, fünf Gläser in der Hand. Angekommen ist sie nie: Der Geschirrspüler blieb halb eingeräumt, die Wäsche vor der Waschmaschine auf dem Boden. Und wenn der älteste Sohn von der Schule nach Hause kam, fragte er nur: "Mama, hast du heute wieder gar nichts gemacht?“
Von einem Raum zum anderen hetzen, ohne das Chaos aufzuräumen. Vor lauter Nebel im Kopf den Alltag nie ganz im Griff haben. Für Margot Lepuschitz gehörte das jahrelang dazu: "Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob ich dumm, faul oder verrückt bin. Die Erklärung kam erst Jahre später.“
Die Erklärung, das waren für Lepuschitz vier Buchstaben: ADHS. Als sie die Diagnose erhielt, war sie 47 Jahre alt.
Häufige psychische Störung bei Kindern
ADHS, kurz für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, ist eine der häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter. Auslöser ist ein Ungleichgewicht der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin, die Informationen zwischen den Nervenzellen übertragen. Lange Zeit galt ADHS als "Zappelphilipp-Syndrom“, als Kleine-Buben-Krankheit und als etwas, das mit dem Alter verschwindet. "Alle Psychiater haben mir gesagt, dass ich kein ADHS haben kann. Schließlich habe ich studiert, bin erwachsen und eine Frau“, erinnert sich Lepuschitz. 15 Jahre lang war die dreifache Mutter wegen Depressionen in Behandlung.
Auch für Samuel Holzer (Name geändert) kam die Diagnose erst spät und mehr durch Zufall. Ursprünglich suchte er wegen Long-Covid-Symptomen eine Psychotherapeutin auf. Nach den ersten Gesprächseinheiten hakte die Therapeutin nach, ob er schon mal an ADS gedacht habe, also eine Aufmerksamkeitsdefizit-Störung ohne hyperaktive Komponente. "Ich dachte mir, das muss ein Missverständnis sein", sagt er zum KURIER. Als er im vergangenen März seine Diagnose bekam, war er 35 Jahre alt.
Zu den Kernbereichen von ADHS zählen:
- starke Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen
- starke Impulsivität
- ausgeprägte körperliche Unruhe (Hyperaktivität)
Die Merkmale müssen nicht gleichermaßen vorhanden sein und verändern sich häufig im Laufe des Lebens. Es gibt sowohl gemischte Erscheinungsformen, als auch die vorwiegend unaufmerksame Erscheinungsform und die vorwiegend hyperaktiv-impulsive Erscheinungsform. In der Regel wird AD(H)S vererbt, in seltenen Fällen sind Umweltfaktoren ausschlaggebend, z.B. traumatische Gehirnverletzungen. Für eine Diagnose müssen immer mehrere Lebensbereiche betroffen sein.
Immer mehr Diagnosen
Wie Lepuschitz und Holzer geht es immer mehr Menschen, die erst im Erwachsenenalter die Diagnose AD(H)S erhalten. Die Spezialambulanz für ADHS an der MedUni Wien verzeichnet seit einigen Jahren eine steigende Nachfrage. Rund drei Monate muss man derzeit auf einen Termin warten. Der Wiener Verein "Team ADHS" spricht auf KURIER-Anfrage von einem "regelrechten Ansturm".
Laut Daten der Österreichischen Gesundheitskasse ist die Zahl der Versicherten über 20 Jahre, die zumindest ein Medikament mit einem Wirkstoff zur Behandlung von ADHS einnehmen, innerhalb von zehn Jahren von 2.032 auf 11.667 Personen (im Jahr 2023) gestiegen. Patienten, die auf eine andere Art therapiert werden, sind hier nicht erfasst.
Für diesen Anstieg gibt es mehrere Gründe. Da wäre zunächst ein allgemein gestiegenes Bewusstsein, erklärt Jakob Unterholzner, Leiter der Spezialambulanz für ADHS, im KURIER-Gespräch. "Mittlerweile ist man dafür sensibilisiert, dass ADHS auch im Erwachsenenalter vorkommen und der Leidensdruck hoch sein kann." Zudem haben sich die Diagnosekriterien angesichts neuer Forschungsergebnisse über die letzten Jahrzehnte immer wieder leicht geändert.
Mädchen sind seltener hyperaktiv
Inzwischen weiß man, dass sich ADHS bei Erwachsenen anders äußert als bei Kindern und bei Buben anders als bei Mädchen: Mädchen sind seltener hyperaktiv, dafür verträumter und unaufmerksamer, also insgesamt unauffälliger als Buben. Bei Erwachsenen wird die Hyperaktivität mit zunehmendem Alter eher zu einer inneren Unruhe, das Aufmerksamkeitsdefizit überwiegt. Viele leiden zusätzlich unter emotionaler Dysregulation, z.B. Stimmungsschwankungen oder Reizbarkeit. Auch bei Menschen, die ursprünglich wegen anderer psychiatrischer Erkrankungen, häufig Depressionen oder Angststörungen, vorstellig wurden, kann ADHS heute besser erkannt werden.
Von einer Überdiagnose, wie sie bei ADHS oft angeführt wird, will Unterholzner nicht sprechen. Insgesamt sei die Prävalenz von ADHS bei Erwachsenen zwar steigend, aber immer noch niedriger als erwartet: "Es muss also noch eine hohe Dunkelziffer geben." Konservative Schätzungen gehen davon aus, dass zwei bis drei Prozent der Erwachsenen an ADHS leiden, das wären in Österreich zwischen 180.000 und 270.000 Betroffene. Hinweise darauf, dass die Häufigkeit von ADHS in der Gesellschaft insgesamt zugenommen habe, gebe es nicht. Möglicherweise habe man es aber mit einem Nachholeffekt zu tun. Unterholzner: "Es kann sein, dass aktuell Patienten und Patientinnen im Erwachsenenalter diagnostiziert werden, die es in der Kindheit nicht wurden."
"Ich erkenne es jetzt die ganze Zeit an mir“
Die Gründe, warum eine AD(H)S lange unentdeckt bleiben kann, sind vielfältig. Samuel Holzer vermutet, dass seine ADS so lange Zeit übersehen wurde, weil er im künstlerischen Bereich arbeitet. Typisch für das Krankheitsbild, weise er nämlich keine Konzentrationsstörungen bei Themen auf, die ihn stark interessieren. Bei seiner klinisch-psychologischen Testung schnitt er zum Beispiel im Fach Türkisch sehr gut ab – bei den Telefonnummern eher weniger. In dem circa dreistündigen Verfahren wurde unter anderem seine Konzentrationsfähigkeit getestet. Dabei musste er Inhalte aus verschiedenen Themengebieten lernen, die in Folge gesammelt abgeprüft wurden. Selbst während der Diagnostik blieb er noch skeptisch: "Ich war eigentlich der Überzeugung, dass ich mich total gut konzentrieren kann (lacht).“
Als er vor einem halben Jahr dann seine Diagnose bekam, war er dennoch erleichtert. "Ich war sehr glücklich darüber, weil ich mich selbst endlich besser verstanden habe.“ Seitdem versuche er, sich mehr über das Krankheitsbild zu informieren und das Wissen in seinen Alltag zu integrieren. Zumindest im beruflichen Kontext gab es eine Entwicklung: "Ich sage es (Die Diagnose, Anm.) allen, mit denen ich zusammenarbeite. Man glaubt immer, man selbst ist so individuell (lacht), aber es ist schon interessant zu sehen, dass es ein Muster ist. Ich erkenne es jetzt die ganze Zeit an mir.“
ADHS ist gut behandelbar
Insgesamt gilt AD(H)S als gut behandelbar. Neben Psychoedukation, Therapie oder Coaching kommen - je nach Symptomen und Leidensdruck - Medikamente gegen das Ungleichgewicht der Botenstoffe zum Einsatz. Das bekannteste Präparat ist Ritalin mit dem Wirkstoff Methylphenidat. Es sorgt dafür, dass das Gehirn Reize von außen besser filtern kann. Während es bei neurotypischen Menschen aufputschend wirkt, führt es bei ADHSlern zu Konzentrationsfähigkeit und Klarheit.
"Diese Medikamente sind natürlich keine Wundermittel, aber sie sind sehr wirksam", ordnet Experte Unterholzner ein. Die Effekte sind mitunter groß: "Sie können die Wahrnehmung der Welt, die Organisation und sogar die sozialen Kontakte verändern. Jemand, der hyperaktiv und impulsiv ist, unterbricht zum Beispiel oft Leute oder redet dazwischen. Das kann sich durch die Medikation ändern."
Margot Lepuschitz musste nach der ADHS-Diagnose viele Jahre Medikamente nehmen, um ihren Alltag gut bewältigen zu können. Heute kommt die 71-Jährige weitgehend ohne aus. Sie läuft nicht mehr kopflos von einem Raum in den anderen, ist nicht mehr depressiv und nicht mehr zappelig vor Aufregung. In ihrem Kopf herrscht endlich Klarheit: "Der Nebel ist weg."
- ADAPT: Arbeitsgruppe zur Förderung von Personen mit ADHS
kontakt@adapt.at - Team ADHS
kontakt@team-adhs.at - Sozialpsychiatrischer Notdienst
Telefon: 01 31 330 (täglich von 0 bis 24 Uhr) - Telefonseelsorge Wien
Telefon: 142 (täglich von 0 bis 24 Uhr) oder Online-Beratung - Rat auf Draht
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