Flucht unter Mary Poppins’ Schutzschirm

Leitartikel: Die grassierende Nostalgie im Kulturbereich ist alles andere als supercalifragilisticexpialigetisch.
Georg Leyrer

Georg Leyrer

Tiefdekolletierte Dirndln und hochgeschlossene Migrationsrouten, Filterblasenwohligkeit und der Notgroschen auf dem fixverzinsten Sparbuch: In allen Lebensbereichen suchen die Menschen derzeit nach Sicherheit, als derart kompliziert werden die Zeiten empfunden.

Nirgends aber ist diese Sehnsucht nach einfacheren Zeiten umfassender als in der Kultur: Wo man hinschaut, wird hier das Millionengeschäft Nostalgie gemolken, und das ist gar nicht supercalifragilisticexpialigetisch, wie Mary Poppins einst sagte (ja, heute startet der neue „Mary Poppins“-Film).

Das Kulturgeschäft funktioniert dort, wo es gutes Geld macht, als Erinnerungsmaschine an die Kindheit: All das, was die heute Erwachsenen von einst noch kennen und mit Einfachheit und Wohligkeit assoziieren, muss zum Geldverdienen in die Ehrenrunde.

Es wird alles fortgesetzt und neu aufgelegt, was nicht schnell genug wegläuft. Und das Publikum ist folgsam: Es rennt in „ Star Wars“- und Superhelden-Filme ohne Ende, singt in den Musical-Häusern bei Abba, Queen, Fendrich, Tina Turner oder Bonnie Tyler mit, kauft alte Alben auf neuem Vinyl, geht zu Rockkonzerten einstiger Legenden jenseits des Pensionsalters, schaut brav im Opernabo immer wieder dieselben 50 Werke an, lässt wehrlos Neuauflagen von „Baywatch“ und „Dharma und Greg“ und „MacGyver“ und „Gilmore Girls“ und „Die Schöne und das Biest“ und (bald) „König der Löwen“ und eben „Mary Poppins“ über sich ergehen.

Dann heißt es zwar brav und verlässlich, die Neuauflage sei lange nicht so gut wie das Original. Aber als Vorlage zur Flucht in die Vergangenheit ist all das gut genug, und das ist vieles, aber besonders erwachsen ist das nicht.

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