Verhaltensforschung: Warum der Mensch doch nicht überlegen ist
Der Biologe Kurt Kotrschal hat sein gesamtes berufliches Leben dem Sozialverhalten von Mensch und Tier gewidmet. Das neue Buch des vielfach ausgezeichneten Verhaltensbiologen heißt schlicht und einfach „Mensch“ und will nichts weniger, als „tausend Jahre Selbstüberschätzung“ hinterfragen.
KURIER: Sie haben Graugänse, Raben und vor allem Wölfe erforscht. Ist Ihr Buch über den Menschen die logische Konsequenz?
Kurt Kotrschal: Natürlich. Wir unterscheiden ja nicht zwischen Menschen und anderen Tieren. Über die Abgrenzung wird seit Jahrhunderten geforscht, das hat übrigens auch Goethe gemacht. Die Einsicht ist, dass wir aus der Evolution kommen. Was macht uns besonders? Die Sprachfähigkeit und die damit verbundene Reflexionsfähigkeit. Aber das ist mehr ein quantitativer als ein qualitativer Unterschied zu anderen Tieren. Was Menschen auszeichnet, teilen wir zum Großteil mit anderen Tieren, und gerade mit anderen Säugetieren verbindet uns viel: Wir denken ähnlich.
Um etwas über Menschen zu erfahren, müssen wir also über Tiere sprechen.
Ja, denn wir haben keine Möglichkeit, uns zu erkennen, wenn wir uns nicht im Spiegel der Tiere betrachten. Das machen die Philosophen seit tausenden von Jahren, ebenso wie die vergleichende Evolutionsforschung oder die vergleichende Medizinforschung. Wenn etwa wir wissen wollen, warum Menschen seriell monogam sind und Seitensprünge machen ein typisch menschliches Verhaltensmuster, dann sollten wir schauen: Wie machen das die nächsten Verwandten?
Die Fragen: „Wer sind wir, woher kommen wir, und wohin gehen wir“ sind die größten Fragen überhaupt.
Ich weiß, es ist ein bisschen größenwahnsinnig, zu glauben, dass ich darauf Antworten geben könnte.
Lassen sich diese Fragen überhaupt beantworten? Und wenn ja: mit Wissenschaft allein?
Kommt drauf an, was ich will. Wenn ich frage: "Was ist der Mensch?", dann haben Leute mit unterschiedlichem Hintergrund unterschiedliche Antworten. Seit es Menschen gibt, überlegen sie, wo sie herkommen und wo sie hingehen. Meist in spirituellem Rahmen. Daher haben wir heute viel Theologie und Philosophie die uns sagen, was Menschen sind. Das beruht immer auf Annahmen, etwa der, dass es Gott gibt. Das mag schon sein. Aber die viel interessantere Frage ist: Was sagen uns die modernen Naturwissenschaften über uns?
Glaube und Wissen gelten seit jeher als Konkurrenten.
Es sind unterschiedliche Systeme, Gewissheit zu erlangen. Der Glaube hat den Vorteil, dass er tatsächlich Gewissheiten liefert, in der Naturwissenschaft sind sie ja immer nur vorläufig, bis wir es eben besser wissen. Aber zu sagen, der Papst hat recht oder Darwin hat recht, das würde zu kurz greifen. Relevante Theologie steht heute in Einklang mit den Naturwissenschaften und schaut, was sie anbietet, um Gottes Schöpfungsplan zu erforschen. Es gibt vonseiten der Naturwissenschaft auch keinen Grund, zu sagen, dass Atheismus vernünftiger als andere Glaubensformen sein sollte. Ob es Gott gibt oder nicht, ist schlicht und einfach nicht unsere Angelegenheit als Naturwissenschafter.
Der Mensch versteht sich, um bei der Theologie zu bleiben, oft als Krone der Schöpfung. Warum eigentlich?
Das kam aus dem historischen Denken heraus, dass wir etwas Besonderes sind. Die abendländische Philosophie hat über Jahrtausende versucht, uns von Tieren und Natur zu emanzipieren. Unsere Vorfahren, die Jäger und Sammler, haben diese Trennung nicht gemacht. Sie wussten, dass sie Teil der Natur und auf Augenhöhe mit Tieren sind und hatten da auch ihre spirituellen Beziehungen. Da kommt unsere Religiosität her. Später ging das verloren. In der Aufklärung haben uns Philosophen wie Descartes erklärt, dass wir reine Geisteswesen sind und dass der Geist getrennt vom Körper existiert. Das schüttelt es jeden Biologen!
Und wer hat uns unsere Überlegenheit eingeredet?
Natürlich die Buchreligionen! Es steht allerdings nirgends, weder im Alten noch im Neuen Testament, dass Tiere keine Seele haben! Und doch war das die Grundlage dafür, dass wir Menschen uns überlegen fühlen. Heute kommen wir zunehmend drauf, dass das, was die Tiere können, sich gar nicht so wesentlich von uns unterscheidet. Papageien und Affen etwa haben vorsprachliche Fähigkeiten und könnten sich etwa über Symbole verständigen. Das heißt: das typisch Menschliche, auch im Bereich des Geistigen, wird immer dünner. Das ist keine Abwertung des Menschen, sondern einfach ein Perspektivenwechsel.
Sind Sie ein Menschenfreund?
Das weiß ich nicht, da müssen Sie meine Frau fragen! Aber im Großen und Ganzen würde ich schon sagen: Ja. Ich bin im Wesentlichen auch ein Optimist. Aber wenn man menschliches Verhalten auf der Welt sieht, dann fällt einem das manchmal schwer.
Wir wissen, dass der Mensch von seiner Umwelt geprägt ist. Welche Auswirkungen haben die sich verändernden Umweltbedingungen auf uns?
Es gibt Optimisten, die sagen: „Na, dann wird es halt wärmer, wir werden uns anpassen und wandern eben woanders hin.“ Ich sage: Das wird schwierig mit 7,6 Milliarden Menschen.
Was ist die Lösung?
Wenn wir am Klimawandel etwas ändern wollen, muss sich ein erheblicher Anteil der Menschen auf das Gemeinwohl hinorientieren. Das ist allerdings immer schon gescheitert.
Die Evolutionstheorie besagt sinngemäß, dass „nur die Härtesten durchkommen“.
Ja. Man muss aber dazu sagen, dass das komplexer geworden ist. Wir sind hochkooperative Gruppenwesen geworden. Unser Erfolg hängt auch davon ab, in eine Gruppe gut eingebettet zu sein. Darum haben wir Menschen diese komplexe Ambivalenz zwischen dem Vertreten der eigenen Interessen und andererseits dem Bedürfnis, gruppendienlich zu sein.
Was passiert, wenn es immer enger wird auf der Welt?
Neue Informationstechnologien, Digitalisierung, künstliche Intelligenz und genetische Technologien bieten riesige Chancen. Wenn wir das alles richtig einsetzen. Ich habe allerdings meine Zweifel daran. Die neuen Technologien haben unglaubliche gesellschaftliche Veränderungen hervorgebracht. Die Frage ist, ob die Konzerne dahinter tatsächlich am Gemeinwohl interessiert sind. Es könnte auch in die Richtung genetischer Differenzierung gehen.
Sehen Sie dennoch einen Hoffnungsschimmer für die Menschheit?
Ich hoffe, dass ich nicht recht habe (lacht). Wir müssen, damit wir eine Chance haben, die nächsten Jahrzehnte und Jahrhunderte zu bewältigen, Optimisten und Idealisten bleiben. Erkennen, wie und was wir sind. Dazu soll auch dieses Buch beitragen. Der Mensch ist von Natur aus gut. Und der Mensch ist von Natur aus eine Bestie. Mit diesem Erbe, das wir von der Evolution mitbekommen haben, müssen wir umgehen. Ohne Bildung und starke demokratische Strukturen werden wir das nicht schaffen.
Kurt Kotrschal, 66, ist Verhaltensforscher, Professor an der Universität Wien und Mitgründer des Wolfforschungszentrums im Niederösterreichischen Ernstbrunn. Bis zu seiner Pensionierung 2018 leitete er die Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau im Almtal. 2010 wurde Kotrschal Wissenschafter des Jahres.
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