Verhaltensforschung: Wenn Tiere wie Menschen empfinden

Erforscht das Gefühlsleben der Tiere: Frans de Waal.
Tiere können trauern, lieben, eifersüchtig sein – davon ist der Verhaltensforscher Frans de Waal überzeugt.

Ihre Zeit war gekommen. Im Alter von 59 Jahren rollt sich die Schimpansin namens Mama in einem Gehege des niederländischen Royal Burgers Zoo ein, um zu sterben. Der Verhaltensforscher Jan van Hooff besucht sie, um sich von ihr zu verabschieden. Jahrelang hatte er Studien in der Schimpansenkolonie durchgeführt und kannte das Tier seit 1974. Van Hooff setzt sich neben die alten Dame und beginnt sie zu streicheln. Erst geschieht nichts, dann erkennt sie ihren alten Freund plötzlich.

Berührendes passiert: Mamas Mimik zeigt Freude, schließlich hebt sie ihren Arm und tätschelt den Professor am Kopf wie eine Mutter ihren Sohn. Am 5. April 2016 stirbt Mama als älteste Schimpansin der Niederlande. Das Video der letzten Begegnung mit van Hooff geht viral und rührt Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Es zeigt nicht nur die starke Verbindung zwischen Mensch und Tier, sondern vor allem, wie ähnlich sie einander sind.

Das ist das Thema des neuen Bestsellers von Frans de Waal. Der weltberühmte Primatologe erkundet in „Mama’s Last Hug“ (derzeit nur in englischer Originalfassung verfügbar) die faszinierende Welt tierischer und menschlicher Empfindungen. Dabei zieht er in Betracht, dass Tiere Emotionen so erfahren wie Menschen es tun, auch wenn sie es nicht in Worte fassen und etwa sagen können: „Das macht mich traurig“.

Viele Wissenschaftler können sich nicht mit dieser Idee anfreunden, ihr Argument: Tieren fehlt es an Bewusstsein. Nur der Mensch kann Gefühle empfinden, indem ihm Emotion bewusst wird – eine besondere Leistung unseres Gehirns. Frans de Waal hingegen ist zutiefst davon überzeugt, dass der Mensch nicht die einzige Spezies ist, die zu Gefühlen fähig ist. Die liebt und hasst, die Angst hat, sich schämt, Schuldgefühle, Freude oder Ekel empfindet, aber auch Empathie und Zuneigung.

Frans de Waal behauptet, dass wir mit Tieren viel stärker verbunden sind und mehr gemeinsam haben, als bisher vermutet wurde. Es würde allerdings bedeuten, dass wir mit der Welt und der Natur, die uns umgibt sowie mit den Tieren selbst viel bewusster umgehen müssten. Der Forscher im KURIER-Gespräch.

KURIER: Herr de Waal, Sie schreiben, dass es Ihnen nie um die Frage ging, ob Tiere Emotionen haben, sondern vielmehr wie es sein konnte, dass diese von der Wissenschaft so lange übersehen wurden. Wieso denken manche Forscher oder Philosophen nach wie vor, dass Tiere kein Bewusstsein, keine Emotionen und auch kein Empfindungsvermögen hätten?

Frans de Waal: Der Begriff „Bewusstsein“ wurde immer als etwas Einzigartiges betrachtet, das nur Menschen zugeschrieben wird. Beweise dafür gibt es keine. Nachdem aber niemand weiß, was Bewusstsein genau ist, und wie wir es messen können, wird mit dem Begriff nach wie vor leichtfertig umgegangen. So kann sich der Mensch weiterhin vom Rest der Natur als getrennt betrachten und sich abheben.

Ein Fehler ...

Ja. Wissenschaftlich betrachtet gibt es keine solide Basis für diese Unterscheidung. Am Beispiel von Elefanten: Es existiert wirklich kein einziger Grund, diesen Tieren ein Bewusstsein abzusprechen. Das Argument, dass Elefanten nicht sprechen können, reicht nicht. Weil es niemanden gibt, der beweisen kann, Bewusstsein sei mit der Fähigkeit, zu sprechen verknüpft. Wenn aber Bewusstsein das Ergebnis von Sinneseindrücken und körperlichen Erfahrungen ist, wäre der Elefant mit seinen exzellenten Sinnen tatsächlich ein Top-Kandidat für den Besitz eines Bewusstseins.

Verhaltensforschung: Wenn Tiere wie Menschen empfinden

Weshalb genau?

Elefanten besitzen etwa doppelt so viele Gene für den Geruchssinn wie Hunde und fünf Mal so viele wie der Mensch. Ihr Körper ist hochkomplex – allein in seinem Rumpf befinden sich 40.000 Muskeln. Ein Elefantenhirn hat außerdem dreimal so viele Neurone wie das menschliche Gehirn.

Bewusstsein lässt sich nicht messen, Emotionen schon, auch bei Tieren?

Emotionen sind messbar. Sie werden über den Körper ausgedrückt, zum Beispiel über den Blutdruck, die Herzfrequenz, die Temperatur, die Stimme, den Cortisolspiegel und so weiter. Wir können Emotionen bei Tieren und bei Menschen auf gleichem Weg messen und sie werden auf ähnliche Weise ausgedrückt. Darin sind Elefanten übrigens einmalig.

Welche Auswirkungen hat es, wenn behauptet wird, Tiere hätten keine Emotionen und würden Trauer, Empathie, Eifersucht gar nicht kennen?

Die Idee menschlicher Einzigartigkeit ist in vielen akademischen Bereichen – Anthropologie, Philosophie, Psychologie, Geisteswissenschaften im Allgemeinen – nach wie vor üblich. Ich bezeichne das als „anthropodenial“. Es bedeutet, dass Tieren jegliche menschliche Eigenschaft abgesprochen wird. Beziehungsweise verleugnen wir, dass der Mensch ein Tier ist und – umgekehrt – Tiere menschenähnliche Erfahrungen haben können. Ich halte diese Sicht für gefährlich.

Warum genau?

Weil diese Sicht die tief greifenden, biologischen Veranlagungen und Kapazitäten unserer Spezies übersieht und sie fälschlicherweise für unsere eigene Erfindung hält. Obwohl es in unserem Gehirn keinen einzigen Bereich oder Prozess gibt, den wir nicht auch bei anderen Säugetieren finden können. Dieser Einstellung haben wir auch die ökologische Krise zu verdanken, die wir gerade erleben – den Klimawandel, das Massensterben. Es wurde die große Illusion erschaffen, dass der Mensch kein Teil der Natur ist und wir alles mit ihr anstellen können. Sie ausbeuten und schlecht behandeln, ohne dass dies Auswirkungen auf uns hätte. Die Annahme, Mensch und Tier hätten nichts gemein, könnte den Niedergang unserer Spezies zur Folge haben.

Der Verzicht auf Fleisch liegt im Trend. Sie widmen dem Thema ein eigenes Kapitel. Wie stehen Sie dazu?

Ich bewundere alle, die sich bemühen, weniger Fleisch zu konsumieren. Doch die Zahl jener Personen, die das tun, ist immer noch sehr gering. Es wäre sinnvoll, würden alle Menschen ihren Fleischkonsum auf die Hälfte reduzieren.

Ihnen geht es ums Tierleid?

Ja. Meine größte Sorge ist, wie wir mit den Tieren umgehen. Ich bin zu sehr Biologe, um die natürlichen Kreisläufe des Lebens infrage zu stellen. Die Natur ist voll mit Organismen, die andere Organismen essen. Und die menschliche Spezies hat eine lange Geschichte im Konsum tierischer Proteine. Doch jetzt, wo wir mehr und mehr wissen, dass Tiere zu komplexen Wahrnehmungen und Emotionen fähig sind, müssen wir diese Haltung endlich verändern. Wir behandeln Tiere schlecht, viele Nutztiere leben unter grausamsten Bedingungen. Wir müssen nicht nur den Fleischkonsum reduzieren, sondern auch Tiere, die wir essen, besser behandeln. Wir sollten uns mehr um das Tierwohl sorgen. Noch besser wäre es, künstliches oder pflanzliches Fleisch zu produzieren. Der Tag wird kommen, denke ich.

Ihr Buch erzählt auch die Geschichte der sterbenden Schimpansin „Mama“. Welche Beziehung hatten Sie zu ihr?

Mama und ich waren gute Freunde. Sie hat mich immer erkannt, auch unter Hunderten Besuchern im Zoo. Sie kam immer, um mich zu begrüßen. Mama war nicht nur die Diplomatin der Schimpansenkolonie, sondern pflegte viele Beziehungen zu den Menschen im Zoo. Meine letzte Begegnung mit ihr hatte ich einige Monate vor ihrem Tod. Mama war schwach, sah schlecht und ging sehr langsam. Dennoch wollte sie Zeit mit mir verbringen. Ich wusste nicht, wie schnell es gehen würde. Als ich das Video von ihrem Sterbebett sah, wie sie Jan van Hooff umarmte, hatte ich Tränen in den Augen, wie so viele Menschen.

Sie schreiben, dass die Schimpansen die Möglichkeit hatten, sich von Mama zu verabschieden. Sie kamen, um das tote Tier zu berühren. Was wissen Sie über Trauer bei Tieren? Und können Tiere Liebe empfinden?

Liebe und Verbundenheit sind uralte Gefühle bei Säugetieren. Wir haben viele Daten dazu. Etwa, welche Rolle der Stoff Oxytocin bei der Paarbindung von Ratten spielt, genauso wie in der Mensch-Hund- und Mensch-Mensch-Beziehung. Da existieren viele Ähnlichkeiten. Ob dabei Gefühle wie Liebe eine Rolle spielen – schwer zu sagen. Wenn Tiere einen Partner verlieren, können sie depressiv werden und hören oft auf zu essen. Sie können sogar sterben. Diese Reaktion ist ähnlich zu dem, was Menschen empfinden, wenn sie ein Kind oder einen Partner verlieren. Es gibt wirklich keinen Grund anzunehmen, dass Tiere diesbezüglich anders reagieren, als Menschen es tun würden.

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