Sie sah viele Männer weinen

Freiwillige Helferin: Nermin Ismai war zwischen Izmir und dem Westbahnhof im Einsatz
Nermin Ismail gibt jenen eine Stimme, die sie auf der Flucht verloren haben.
Von Uwe Mauch

Persönliche Erfahrungen im Grenzbereich, etwa im Hafen der westtürkischen Stadt Ayvalık: Noch vor zwei Stunden hat sie mit Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan gesprochen. Über ihre bevorstehende Schlauchbootfahrt, die Angst, dass sie die griechische Insel Lesbos nicht lebend erreichen werden. Auch über ihr Leben vor der Flucht. Jetzt sitzt Nermin Ismail auf diesem großen fast menschenleeren Fährschiff, das sie zügig, gefahrenlos nach Europa bringt.

Sie sah viele Männer weinen
Aus dem Buch: Etappen einer Flucht. Zur einmaligen Verwendung
"Da ist mir bewusst geworden, wie privilegiert ich bin, dass ich nicht flüchten muss und selbst das Wort ergreifen kann", sagt Ismail vor der Präsentation ihres BuchsEtappen einer Flucht(siehe auch unten). Die 25-jährige Dolmetscherin, Journalistin und Buchautorin wurde in Wien geboren, sie ist hier gut behütet aufgewachsen. "Meine Eltern waren zuvor von Kairo nach Österreich übersiedelt."

Und immer wieder diese persönlichen Erfahrungen! Auch vor dem Grenzübergang Spielfeld, wo sie auf beiden Seiten der Zäune zuerst als junge Frau auf der Flucht wahrgenommen wurde – von den Wartenden im Pulk ebenso wie von den Kontrollierenden in den Uniformen. Doch im Gegensatz zu den Wartenden, für die die Politik inzwischen Obergrenzen eingezogen hat, kann sie sich in ihrer Mutter- und der Sprache der Österreicher perfekt mitteilen. Und einen Pass der Europäischen Union besitzt sie auch.

Sie sah viele Männer weinen
Aus dem Buch: Etappen einer Flucht. Zur einmaligen Verwendung
Die Vermittlerin kann sich noch gut erinnern: "Sobald ich etwas gesagt habe, hat sich das Blatt sofort gewendet." Für sie zum Guten: problemlos konnte sie all die Sperren, die Europa errichtet hat, passieren.

Sie sah auch Männer weinen

Eine weitere positive Erfahrung für Nermin Ismail: "Dass meine Sprachkompetenz als Chance begriffen wurde." Nicht nur von den Dienst habenden Beamten: "Endlich wurde ich gebeten, Arabisch zu sprechen." Endlich konnten aber auch arabisch sprechende Flüchtlinge loswerden, was sie seit Monaten bedrückt. Endlich hörte ihnen wer zu: "Ich erinnere mich an einen Mann, der immer wieder aus der Warteschlange austrat. Er sei auf der Suche nach seiner Tochter, erklärte er mir auf mein Nachfragen. Er hatte sie zuletzt im Schlauchboot in der Ägäis gesehen." Tränen. Sie sah auch Männer weinen: "Da musste ich meine eigenen Vorurteile revidieren. Manchmal habe ich mir gedacht, dass sie keine Übersetzerin benötigen, sondern viel mehr psychologische Betreuung."

Sie sah viele Männer weinen
Simon van Hal
Ehrenamtlich übersetzte Ismail in Wien am Westbahn- und am Hauptbahnhof, in Traiskirchen, in Nickelsdorf und Hegyeshalom. In Izmir und auf der Insel Lesbos arbeitete sie auch als Journalistin. Auf den Etappen ihrer persönlich gewählten Fluchtroute wurde sie von dem Fotografen Simon van Hal begleitet, dem es gelungen ist, die Menschen als Menschen und nicht nur als Fotomotive abzulichten.

Die Idee, ein Buch über ihre Erfahrungen zu schreiben, ist im Laufe ihrer Arbeit mit den Flüchtlingen entstanden: "Weil so viele Menschen mich gebeten haben, dass ich meinen Landsleuten erzählen soll, dass sie mit guten Absichten in ihr Land kommen wollen. Dass sie sich nach Demokratie und Gleichberechtigung sehnen und nicht nach einem Islamischen Staat. Ich wollte ihnen daher eine Stimme geben, die sagen möchte, dass Flüchtlinge vor der Angst fliehen und selbst keine neuen Ängste erzeugen möchten."

Sie traf Hilfesuchende mit offenen Wunden, die sie zuvor nur in Filmen gesehen hatte. Sprach mit Todtraurigen nach ihren Suizidversuchen. Öfters klammerten sich ältere Frauen an sie, flehend: "Tochter, bleib’ bitte da!" In Traiskirchen fragten wiederum syrische Diplomaten: "Wie kann man uns das antun?"

Gesten, die uns nichts kosten

Schwer fällt in solchen Momenten das Trösten. Wie soll man glaubhaft machen, dass alles wieder gut wird? Und wie soll man jenen begegnen, denen zwar die Flucht geglückt ist, die aber jetzt in einem schwarzen Loch versinken, weil sie alles hinter sich lassen mussten und hier keine Arbeit, keine neue Aufgabe, keine Ruhe, keine Normalität finden können? Die Antwort darauf ist einfacher als befürchtet: "Oft sind es kleine Gesten, die uns nichts kosten, die aber viel Positives bewirken können. Jeder kann etwas tun, um das Gemeinwohl zu fördern. Das Mindeste ist für mich, dass ich den Ankommenden zuhöre."

Die junge Wienerin, die Politikwissenschaft und Pädagogik studiert hat, vergisst nicht, ihren Eltern für deren Weitsicht zu danken. Ihre beiden Schwestern, ihr Bruder und sie mussten während der Schulzeit regelmäßig mit einem Lehrer Arabisch lernen: "Wir haben das damals wirklich nicht gerne getan. Heute bin ich froh und dankbar, dass ich neben dem Deutschen auch meine Muttersprache beherrsche."

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Aus dem Buch: Etappen einer Flucht. Zur einmaligen Verwendung
Was hat Nermin Ismail, die jetzt regelmäßig im ORF-Landesstudio Wien arbeitet, weiterhin vor? Ihre Antwort ist klar und deutlich: "Die ehrenamtliche Hilfe hört nicht auf, nur weil auf dem Westbahnhof keine Flüchtlinge mehr ankommen."

DAS BUCH

Nermin Ismail: Etappen einer Flucht, Tagebuch einer Dolmetscherin mit zahlreichen berührenden Fotografien von Simon van Hal, Verlag Promedia, 240 Seiten, 19,90 €.

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Buch Etappen einer Flucht
PRÄSENTATION UND DISKUSSION

Am Montag ab 19.30 Uhr im Aktionsradius Wien, 1200 Wien, Gaußplatz 11. Mit Karl-Heinz Grundböck vom Bundesministerium für Inneres und Christoph Riedl von der Diakonie Österreich.

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