Müssen wir uns um die Zukunft unserer Kinder Sorgen machen?
Unsere Art zu leben ist an die Grenze gekommen, ist das Fazit der Erziehungsexpertin Martina Leibovici-Mühlberger angesichts der Pandemie und sonstiger Krisen. Im Gespräch mit dem KURIER erörtert sie Bewältigungsstrategien.
KURIER: Wir sind im dritten Jahr der Pandemie. Wie geht es unseren Kindern? Müssen sich Eltern Sorgen machen?
Martina Leibovici-Mühlberger: Nicht unbedingt. Wir Menschen haben eine Selbstheilungstendenz, weil unsere Spezies ja zukunftsorientiert ist. Vielen Kindern geht es gut, und dennoch ist nicht zu übersehen, dass Essstörungen, Depressionen oder die Zahl der Schulabbrecher massiv zugenommen haben. Das wird viel zu wenig gesehen – man sieht nur die Wirtschaft. Und weil die Gesellschaft das Leiden der Kinder nicht sieht oder sehen will, wird es fortgesetzt.
Wie könnte man den jungen Menschen helfen?
Es geht ja nicht nur darum zu helfen. Kinder sind unsere Zukunftsressource, weshalb es unser ureigenes Interesse sein muss, sie zu unterstützen. Dies umso mehr, als die Jugendlichen in der Krise sehr solidarisch waren. 82 Prozent waren bereit, aus Solidarität die Maßnahmen mitzutragen, obwohl sie wussten, dass das Risiko, selbst schwer zu erkranken, minimal ist. Jetzt, wo die Jungen uns brauchen, erhalten sie die Solidarität nicht. Helfen könnten etwa aufsuchende Sozialarbeit oder mehr Plätze für Psychotherapie.
Die Jugendlichen erleben die Welt dauernd in der Krise. Kann in einer Krise auch eine Chance stecken?
Natürlich, das ist einer der Hauptgründe, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Ich bin überzeugt, dass unsere Art zu leben an die Grenze gekommen ist: Dass die Wirtschaft immer weiter wächst, war für meine Generation noch ein Versprechen, weil dies zu mehr Wohlstand führte. Jetzt sind wir am Ende der Wachstumsillusionen angekommen – der Kapitalismus und die damit verbundene Ideologie stecken in der Krise. Das heißt, dass wir etwas Neues entwickeln müssen. Die junge Generation spürt das.
Martina Leibovici-Mühlberger
ist Mutter von vier Kindern, ist Psychotherapeutin, praktische Ärztin und leitet die ARGE Erziehungsberatung.
Etliche Jahre war sie KURIER-Familycoach und beantwortete Erziehungsfragen.
Während der Corona-Pandemie untersuchte sie gemeinsam mit dem Soziologen Klaus Hurrelmann die Situation der Jugend.
Was kann dieses Neue sein?
Wir sollten uns als Gesellschaft fragen, was ist wichtig für uns? Haben oder Sein? Eine Botschaft könnte sein, dass wir erkennen, dass wir mit den Werten des Habens nicht gut beraten sind – abgesehen von den Grundbedürfnissen, die abgedeckt sein müssen. Krisen können wir nur als Gemeinschaft bewältigen – deshalb müssen wir radikal sozial und kreativ sein.
Können Sie das präzisieren?
Stellen Sie sich vor, man würde Sie als Einzelperson nackt in die Alpen schicken – sie würden dort nicht lange leben. Wenn Sie als Gruppe dort hingeschickt werden, sieht die Sache schon anders aus, weil der Mensch als Gemeinschaft Lösungen schaffen kann. Er hat soziale und kreative Lösungskompetenzen. Er kann komplexe Lösungen erdenken und diese auch ausprobieren.
Was müssen wir unseren Kindern mitgeben, um diese Lösungskompetenz zu erwerben?
Das Wesentlichste ist mir Würde und Respekt.
Das klingt sehr allgemein.
Würde und Respekt ist eine Haltung, die ich gegenüber jungen Menschen habe. Die Politik vermittelt das gerade nicht. Auch in den Bildungsinstitutionen fehlt eine Kultur der Wertschätzung.
Das Bildungssystem hat in der Pandemie wenig Rücksicht genommen – sowohl auf Schüler als auch auf Lehrkräfte. Stoff muss aufgeholt, Schularbeiten geschrieben werden. Kinder hatten kaum Zeit zum Durchatmen.
Was in der Schule läuft, ist furchtbar – es gibt viele engagierte Pädagoginnen und Pädagogen, denen aber die Luft ausgeht. Leider wird in den Schulen und Kindergärten unsere Zukunft versemmelt. Dabei sind diese Orte so wichtig für die Sozialisierung unter Gleichaltrigen – denn zu Hause kann dies nicht passieren. Da hat jedes Kind im Schnitt 0,37 Geschwister.
Den respektvollen Umgang miteinander lerne ich deshalb in einem hohen Ausmaß außerhalb der Familie, in der Schule. Dafür muss man Ressourcen zur Verfügung stellen. Wenn man das richtig macht, kann man Bildungseinrichtungen so gestalten, dass Kinder und Jugendliche nicht mehr nach Hause wollen.
Buchtipp:
Wie wir unsere Kinder retten und die Welt dazu. Verlag Gräfe und Unzer, 192 Seiten, 20,90 Euro
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