Handbuch: Körperliche Gewalt ist die Spitze des Eisbergs
Gewalt hat viele Gesichter. „Mit Stand Anfang Dezember 2021 gab es 30 Fälle von Morden an Frauen, 29 davon wurden mutmaßlich von ihren (Ex-)Lebensgefährten verübt. Weil sie Frauen sind“, heißt es im neuen Handbuch „Ist das schon Gewalt?“. Femizide sind also nur die Spitze des Eisbergs. Vor allem im sozialen Nahraum findet Gewalt äußerst subtil statt. Von außen kaum sichtbar – hinter scheinbar perfekten Fassaden von Paarbeziehungen. Zu erkennen, wo Gewalt beginnt, hilft, vorzubeugen und sie zu stoppen. Was nötig ist, um den Kreislauf des Leids zu unterbrechen, erzählt Bettina Zehetner vom Verein „Frauen beraten Frauen“, der die neue Studie durchgeführt hat.
KURIER: „Er hat mich ja nie geschlagen“: Gewalt gegen Frauen beginnt meist nicht mit physischer Aggression. Femizide, wie sie Medien berichten, sind ein fataler, aber kleiner Ausschnitt. Wie vielfältig ist die „Landschaft der Gewalt“?
Bettina Zehetner: Die Spitze ist die sichtbare, die körperliche Gewalt, die sich lange davor entwickelt. Viele Gewaltbeziehungen beginnen mit einem Honeymoon. Frauen erzählen, sie hätten jemanden kennengelernt, der sie auf Händen trägt. Aber auch, dass es jemand ist, der sie für sich allein wollte. Schon früh kommen Kontrollwünsche zum Vorschein. Wir haben in unserer Studie festgestellt, dass gewalttätige Partner testen, wie weit sie gehen können. Anfangs sanft, in Form subtiler Kontrolle. Daraus wird ein Beschimpfen, Demütigen, Entwerten und Infragestellen der weiblichen Wahrnehmung. Viele Frauen denken dann, das sei alles normal.
Die Frauen empfinden das also gar nicht als Gewalt?
Manche empfinden es als seltsam, aber wissen nicht genau, was es ist. Wenn sie zu uns kommen, ist da schon ein Leidensdruck. Manche fragen, was sie machen sollen, weil sie denken, sie wären schuld, dass sie nicht glücklich sind. Ihr Partner sagt, sie solle sich ändern. Hier können wir gut ansetzen, weil wir im geschützten Rahmen der Beratungsstelle behutsam nachfragen, was Frauen als glückliche Beziehung definieren. Fühlen sie sich durch den Partner gestärkt und unterstützt? Haben sie das Gefühl, es geht ihnen gut? Gibt es Angstgefühle? Oder trauen sie sich ihre eigene Meinung nicht mehr zu äußern, weil er wütend wird? Stück für Stück erforschen wir, wie es der Frau wirklich geht.
Da wäre es wohl wichtig, rasch Grenzen zu ziehen?
Das Wort „Grenze“ ist von enormer Bedeutung. Sobald eine Frau erkennt, was ihr nicht guttut, sollte sie es benennen und das Verhalten stoppen. Wenn das nicht klappt, wird deutlich, dass es um Kontrolle, Machtausübung oder Gewalt geht. Jetzt geht es um die nächste Entscheidung: Will ich das so weiterleben oder mich trennen? Ich habe festgestellt, wenn Frauen bereits bei ersten Anzeichen in die Beratung kommen, ist meist noch viel zu machen. Weil potenziell Gewalttätige austesten, wie weit sie gehen können. Wenn sie an Grenzen stoßen, gehen manche oft nicht weiter. Es ist wichtig, sich als Frau einen Zeithorizont auszumachen, um zu sehen, ob sich was verändert, nachdem das Problem benannt wurde. Ändert sich nichts, ist der nächste Schritt fällig.
Warum lassen sich Frauen so viel gefallen?
Oft ist es die Sehnsucht nach Anerkennung oder überhaupt eine Beziehung zu haben. Es gibt eine große Angst vor dem Alleinsein. Das ist spannend, weil viele Beziehungen mehr Leid als Glück bringen. Trotzdem ist es für viele Frauen wichtig, einen Partner zu haben oder die Familie zu erhalten. Sie fühlen sich verantwortlich, wollen niemanden verstören, den Kindern nicht den Vater wegnehmen. Es sind gesellschaftliche Normen, die Frauen erfüllen wollen. Sich zu trennen, ist immer noch nicht selbstverständlich. Es hat nach wie vor etwas von Versagen und Schuld.
Frauen neigen also dazu, den Fehler bei sich zu suchen.
Laut allen Erzählungen, die ich in der Beratungsstelle höre: ganz klares Ja. Es ist erstaunlich, wofür sich Frauen verantwortlich fühlen. Oft ist da ein Allmachtsgedanke, dass sie das Verhalten des anderen steuern könnten. Manche Frauen glauben, sie könnten die Depression ihres Mannes heilen oder ihn von seiner Sucht wegbringen. Das ist realitätsfern. Diese Männer können sich nur selbst helfen. Dieses „Reparaturprojekt“ Mann ist problematisch.
Worin wurzelt das weibliche „Reparaturbedürfnis“?
Das hat sowohl biografische Gründe als auch gesellschaftliche. Selbst Frauen, die eine glückliche Kindheit hatten, geraten manchmal an gewalttätige Partner und tun sich mit Trennung schwer. Es ist immer noch die Sozialisation von Mädchen, die darauf trainiert werden, zu gefallen und auf Beziehung orientiert sind statt in Richtung Autonomie oder Durchsetzungskraft. Sie sorgen sich mehr um andere, sind fürsorglich, verständnisvoll, einfühlsam im Sinne klischeehafter Geschlechterstereotype.
Wie muss man sich auf der anderen Seite die Männer vorstellen, die subtil Gewalt ausüben?
Das sind nach außen meist Idealpartner. Die Fassade in Gewaltbeziehungen ist oft perfekt. Eben, weil es im Privaten so schlimm ist, wird nach außen darauf geschaut, dass alles fein wirkt. Viele Frauen wirken an diesem schönen Bild selbst mit. Die Scham ist groß. Sie fürchten, dass das publik wird, möchten das Familienleben schützen und erzählen kaum, wie es daheim wirklich zugeht. Aber genau das wäre ein erster wichtiger Schritt.
Welche Auswirkungen hat das auf Frauen?
Sie fühlen sich in ihrem Selbstwert, in ihrer Wahrnehmung, ihrem Urteil verunsichert, halten sich manchmal für verrückt, weil der Partner meint, sie würde sich alles nur einbilden. Viele Frauen haben dann sogar das Gefühl, womöglich nicht mehr allein klarzukommen, obwohl sie sich schon so geschwächt in der Beziehung erleben. Körperlich treten verschiedenste Symptome auf – in Form von Essstörungen, Schmerzen im Bewegungsapparat, im Magen, Kopf, auf der Haut, alles mit ungeklärter Ursache. Auch das Immunsystem leidet häufig stark.
Wie gelingt es, mehr Bewusstsein für die subtilen Formen der Beziehungsgewalt zu schaffen, etwa schon in der Erziehung der Kinder?
Es ist wichtig, dass Mädchen und Burschen bereits in jungen Jahren dafür sensibilisiert werden: Wie gehen wir miteinander um? Was ist ein respektvoller Umgang miteinander, ist er gleichwertig, wo gibt es Konflikte, und wo ist die Grenze zur Gewalt? Wo jemand gekränkt, verletzt oder zu etwas gezwungen wird, was er im Grunde nicht möchte. Und es ist immer noch so, dass Mädchen deutlich mehr sexualisiert werden als Burschen. Das ändert sich zwar gerade, aber Mädchen werden in der Pubertät nach wie vor als „Objekt“ betrachtet. Sie da zu stärken, und den Burschen zu sagen, Beziehung auf Augenhöhe macht langfristig viel glücklicher, wäre wichtig. Es würde beiden Geschlechtern guttun, sich hier auszutauschen, in beide Richtungen: Autonomie und Bindung.
Was kann ich tun, wenn ich bemerke, dass eine Freundin in einer solchen Situation ist? Wie ermutige ich sie, ohne dass sie sich womöglich bevormundet oder in eine Ecke gedrängt fühlt?
Bedrängen wäre falsch. Signalisieren Sie: Ich bin da für dich. Ich habe ein offenes Ohr, du kannst mir erzählen, wie es dir geht. Einfach das Gefühl vermitteln, dass sich jemand aussprechen kann. Das stärkt in dieser Phase am meisten. Wichtig ist, dass man jemanden nicht bewertet oder unter Druck setzen möchte. Es geht vielmehr darum, einen Ort zu schaffen, um nachzudenken und eine Perspektive von außen zu ermöglichen.
Glauben Sie, dass Gewaltfreiheit je möglich ist?
Unbedingt. Weil das der Weg ist, den wir gehen müssen, um zu überleben. Es ist ja auch die feministische Utopie eine der Gewaltfreiheit, dabei geht es außerdem um institutionelle und strukturelle Gewalt, die wir in diesem Handbuch ebenfalls behandeln. Es ist gesellschaftlich unbedingt nötig, das anzugehen, um Strategien zu entwickeln, wie Gewalt beendet werden kann. Ich bin davon überzeugt, dass das möglich ist. Und dass – wenn klar ist, wer davon profitiert – diese solidarischen Zusammenschlüsse besser funktionieren. So würde auch Frauensolidarität noch besser klappen. Wenn klar wäre, wer davon profitiert, würden sich Frauen weniger auseinanderdividieren lassen.
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