Über 50 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher sind entweder mehr- oder hochgewichtig. Ein Fakt, auf den die Medizin immer wieder warnend hinweist, weiß man doch schließlich, dass Adipositas ein Risikofaktor für einige Krankheiten sein kann.
Soweit, so bekannt. An dieser Stelle endet der Diskurs allerdings meistens. Studien zum Thema Übergewicht bzw. Fettleibigkeit stammen hierzulande ausschließlich aus dem medizinischen Bereich – und fast immer nur im Kontext besagter gesundheitlicher Risikowarnungen.
Darüber, wie es dicken Menschen im Alltag geht, wie die Gesellschaft sie sieht und wie sich dieses Narrativ auf ihr Privat- und Berufsleben sowie auf ihre Psyche auswirkt, wird weitaus seltener diskutiert. Man spricht viel mehr überMehrgewichtige, aber kaum mit ihnen, ungeachtet der eben erwähnten Tatsache, dass es in Österreich viele von ihnen gibt.
Eine Lücke, die zahlreiche Unternehmen bereits für sich erkannt haben, das Thema Body Positivity ist schließlich schon lange in aller Munde, insbesondere im Mode-Bereich. Aktuelles Beispiel: Das heimische Traditionshaus Palmers machte vor kurzem mit einer entsprechenden, groß angelegten Kampagne auf sich aufmerksam.
Wie ernst meint es die Industrie mit der Inklusion aber tatsächlich? Wie erleben mehrgewichtige Personen selbst die aktuellen Debatten? Wie gehen sie mit Hass im Netz und im "realen" Raum um? Und wie schwierig ist es für sie, scheinbar belanglose Dinge des Alltags zu meistern – etwa, Kleidung in ihrer Größe in Geschäften vor Ort zu finden?
Zwei Wienerinnen haben sich dieser Fragen angenommen: Martina Herrmann-Thurner alias Bobby Curvect ist Unternehmerin und Plus-Size-Expertin; Justyna Ziarko alias "jus_curvy" auf Instagram ist Social-Media-Managerin und Body-Acceptance-Aktivistin. In ihrem gemeinsamen neuen Podcast "Fat Business" sprechen die beiden über das Leben als Mehrgewichtige – und nehmen sich dabei kein Blatt vor den Mund. Auch lassen sie weitere Fachpersonen darin zu Wort kommen, um gesellschaftliche Stigmata gegen dicke Menschen zu verdeutlichen.
Wann und warum es völlig okay ist, eine Person als "fett" zu bezeichnen, wie weit es mit der Inklusion in Mode- und Berufswelt tatsächlich geht und warum es ihrer Meinung nach ein eigenes Gesetz gegen Diskriminierung von Mehrgewichtigen braucht, erklärt das Duo im Gespräch mit dem KURIER.
KURIER: Sollte man Ausdrücke wie "fett" oder "dick" überhaupt noch verwenden?
Bobby: Es kommt auf den Zusammenhang an – und darauf, wer es sagt. Per se sind diese Ausdrücke lediglich deskriptiv, sie beschreiben etwas. Für mich haben sie darüber hinaus keine Bedeutung. Die gesellschaftlichen Konnotationen damit sehen natürlich anders aus, da kommt die Frage der Diskriminierung ins Spiel. Aber nur das Wort "fett" oder "dick" ist per se nichts Schlechtes. Ich bin fett, ich bin dick – und das ist okay. Das kann ich auch laut sagen. Was andere daraus machen, ist das Problem.
Justyna: Man müsste sich fragen, woher die negativen Behaftungen für diese Wörter überhaupt kommen. Auch ich betone immer wieder, dass "dick" oder "fett" einfach nur Beschreibungen sind – wie "hübsch" oder "intelligent". Es kommt immer auf den Kontext an, ob ein Wort beleidigend ist oder nicht.
Was hat Sie dazu bewogen, Ihren Podcast zu starten?
Justyna: Wir haben uns bei einem beruflichen Event getroffen und im Gespräch ist zufällig der Name "Fat Business" gefallen – und ich wusste sofort, dass man irgendetwas damit machen muss. Zwei Wochen später haben wir uns im Zuge der neuen Palmers-Kampagne – die wir in unserer ersten Folge auch intensiv besprechen – dazu entschlossen, den gemeinsamen Podcast aufzunehmen.
"42 ist Standard-Größe in Österreich, nicht Plus-Size"
Palmers ist ein gutes Stichwort: Man findet dieser Tage in Geschäften oder Online-Shops immer mehr "Normalität": Sprich Cellulite, Narben, Dehnungsstreifen oder Speckröllchen an Models. Ist das Thema endlich in der Modewelt angekommen?
Bobby: Der Höhepunkt der ganzen Plus-Size- und Body-Positivity-Bewegung war ja bereits Mitte der 2010er. Bodypositivity wiederum geht auf die Fat-Acceptance-Bewegung der 1960er-70er zurück. Die Wirtschaft entdeckt den Begriff immer mehr für sich und vermarktet so Produkte. Man hat öfter körperliche Diversität gezeigt bekommen, was sehr gut ist, insbesondere, wenn bekannte Marken so etwas machen.
Jedoch hat sich trotz allem die Einstellung der Menschen bislang kaum verändert. Auch nicht die Vorurteile. Was zudem bei der Debatte um Diversität nach wie vor fehlt: Dass wirklich mehrgewichtige Menschen gezeigt werden. Denn eine Größe 44 oder 46 repräsentiert das nicht, wenn 42 die Standard-Konfektionsgröße in Österreich ist. Da sind wir eigentlich noch in der Norm.
Justyna(wirft zu Bobby ein): Ab wann beginnt Plus-Size für dich?
Bobby: Die Industrie setzt wie gesagt ab Größe 44 an. Ich würde sagen, ab 48 fängt für mich Plus Size wirklich an.
Fühlen Sie sich mit Ihren Kleidergrößen in der Modewelt ausreichend repräsentiert?
Bobby: Nein. In Geschäften findet man meist Sachen bei Größe 46, manchmal auch 48. Darüber hinaus wird es aber schon schwierig. In immer mehr Läden werden die eigenen Plus-Size-Abteilungen aufgelassen, man findet sie fast gar nicht mehr – sprich man muss dann eben online kaufen. Jemand in meiner Kleidergröße, mit 52/54, wird modisch fast gar nicht repräsentiert. Vor allem seit Covid konnte man diese Entwicklung beobachten.
Was könnten die Gründe für diesen Rückzug von Plus-Size in den Geschäften sein?
Bobby: Richtig erklären kann mir das niemand, obwohl ich schon mit vielen Unternehmen darüber gesprochen habe. Denn der Bedarf nach Plus Size ist nicht weniger geworden – es gibt immer mehr dicke Menschen. Das ist ein Fakt, egal, wie wir darüber denken. Dennoch wird das Angebot für diese Menschen in den Geschäften heruntergefahren. Ist es eine Frage des Images? Eine Platzfrage? Oft wird gesagt, die Leute kaufen es nicht – und dann werden die Plus-Size-Abteilung im Winkerl versteckt. Aber dass der Bedarf nicht da ist, kann nicht sein.
Leider gibt es in Österreich dazu keinerlei Zahlen. Das Thema Mehrgewichtigkeit erscheint immer nur im medizinischen Kontext, nicht im wirtschaftlichen. Wir scheinen nicht als Zielgruppe auf. Dass es dazu keine ökonomischen Daten gibt, ist ein großes Manko.
Justyna: Ich war total glücklich, als ich früher in Stores vor Ort viel Auswahl auch für meine Größe gefunden habe. Ich finde diese Entwicklung sehr schade. Man hat das Gefühl, in Österreich wird Plus-Size bewusst zurückgezogen – und das nehme ich sehr persönlich.
Wie empfinden Sie selbst die aktuelle Kampagne von Palmers?
Justyna: Bei einem Unternehmen wie Palmers erwarte ich mir bei so einer riesigen Kampagne schon, dass sie alle Größen abdecken, bis hin zur Größe 60. Was aber nicht der Fall war, Size-inclusive ist das in der aktuellen Form also nicht. Die Kommunikation hier war leider nicht gut – da nicht von Anfang an mitgeteilt wurde, dass Palmers ab Herbst/Winter 24 eh auch größere Größen ins Sortiment nehmen wird. Uns haben sie das erst auf Anfrage mitgeteilt.
Bobby: Dass ein Unternehmen wie Palmers so eine Kampagne macht, ist ansich eine super Sache, gerade in Österreich. Es ginge aber noch besser. Ich glaube, dass vielen Unternehmen die Expertise fehlt. Wenn man in Sachen Diversität ausbauen möchte, holt man sich am besten Menschen ins Boot, die sich damit auch wirklich auskennen – nicht nur als Models, sondern auch im Design, beim Schneidern, etc.
"Dicke Menschen gelten als medizinisches 'Problem'"
Bobby, Sie sagen in der ersten Podcastfolge: "Wir werden nicht als Konsumenten, sondern als Fehler betrachtet." Inwiefern?
Bobby: Dicke Körper sind in unserer Gesellschaft mit der Medizin verbunden, werden als medizinisches "Problem" betrachtet. "Dicke Menschen belasten das Gesundheitssystem, sie brauchen Medikamente, sie sterben früher, … ". Wir werden stets nur aus diesem medizinischen Standpunkt betrachtet. Und genau so sieht uns auch die Gesellschaft – und glaubt dann, wir wären nicht leistungsfähig, faul, krank.
Justyna: Eben nur auf das Gewicht reduziert, unabhängig davon, ob wir ein gesundes Leben führen und tolle Blutwerte haben, oder nicht.
Bobby: Das zu durchbrechen und ein anderes Narrativ zu finden, ist überaus schwierig. Wir beide versuchen das schon seit Jahren. Die große Mauer ist die Medizin, die unsere Körper als "Fehler" deklariert. Doch wie kann man einen Menschen nur als "Fehler" betrachten?
Stichwort Medizin:Im schlimmsten Fall sind mehrgewichtige Menschen so weit eingeschüchtert oder verunsichert, dass sie Arztbesuche ganz vermeiden. Wie kann man hier entgegenzuwirken?
Bobby: Viel reden, sich austauschen und Aufklärungsarbeit betreiben. Ich habe im Februar etwa ein Event namens "Fett in der Medizin" veranstaltet, zu dem ich medizinisches Personal und dicke Menschen eingeladen habe, um über dieses Thema zu sprechen.
Und ist man auf einen grünen Zweig gekommen dabei?
Bobby: Die Conclusio ist, dass es ein Gesetz gegen Gewichtsdiskriminierung braucht. Wir arbeiten uns ja von unten nach oben durch mit dem Thema – ich klopfe auch immer wieder an die Türen der Politik. Ich bin der festen Überzeugung, dass es ohne ein solches Gesetz keine Veränderung geben wird. Da kann ich noch so viel von unten versuchen zu bewirken.
Justyna: Das sehe ich auch so. Wenn dieses Thema nicht in der Politik Anklang findet, wird es in der Gesellschaft im Hintergrund verschwinden. Auch darum haben wir unseren Podcast gestartet – weil wir das nicht wollen, wir möchten laut sein und haben es satt, im Hintergrund zu stehen. Denn Menschen wie uns gibt es zur Genüge.
Lange Zeit galt der Body-Maß-Index als alleiniger Richtwert für Gewicht und Körpergesundheit. Neue Erkenntnisse zeigen aber: Haben übergewichtige Personen einen gesunden Stoffwechsel, ist ihr Gesundheitsrisiko laut internationalen Studien niedriger als bei stoffwechselkranken Schlanken.
Das Universitätsklinikum Tübingen etwa führt zum Thema Stoffwechselgesundheit bei Mehrgewicht Untersuchungen durch - mit teils überraschenden Ergebnissen.
Auch das Deutsche Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (DIfE) unterstreicht, dass der Stoffwechsel eines Menschen dann in Ordnung ist, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: kein metabolisches Syndrom, keine Insulinresistenz, Blutdruck normal, Fette normal, Blutglukose normal. Dies könne auch auf (laut BMI) Mehrgewichtige zutreffen.
Beleidigungen auf offener Straße
Man kann sich vorstellen, dass Sie nicht nur positive Rückmeldungen auf Social Media und Co. bekommen. In Ihrer zweiten Podcastfolge geht es um Hassbotschaften. Wie gehen Sie damit persönlich um?
Justyna: Nachdem ein Video von mir viral gegangen ist und ich nach wie vor pro Tag etwa 50 Personen auf meinem Instagram-Profil blockieren muss, habe ich angefangen, auf diese speziellen Kommentare – die fast ausschließlich von Männern stammen – mit neuen Reels satirisch und sarkastisch zu reagieren. Ich schwärze auch keine Namen dabei, denn das sind öffentliche Kommentare, warum sollte ich Hass-Postern dabei also Anonymität geben? Dieses Reagieren darauf hilft mir persönlich, mit beleidigenden Kommentaren umgehen zu können.
Wird es manchmal auch zu viel?
Bobby: Ich sage nicht, dass es mich völlig kalt lässt. Aber mir ist klar, dass Menschen, die beleidigende Postings verfassen, meist Probleme mit sich selbst haben. Ich bin dann lediglich ein Ventil für sie. Was mir nahe geht, ist, wenn mir jemand Erfahrungen absprechen will, nach dem Motto: "Nein, das ist so sicher nicht passiert!". So etwas finde ich sehr fies.
Justyna: Es ist im Prinzip eine Form von Gaslighting.
Bobby: Genau. So etwas kann verletzend werden. Auch, wenn man mir meine Intelligenz absprechen möchte. Zum Glück habe ich aber ein tolles Netz an Menschen um mich, die mich in schwierigen Zeiten auffangen. Prinzipiell will ich Hass-Poster aber keinen Platz in meinem Kopf einräumen – denn dann bekommen sie Macht über mich. Das möchte ich nicht.
Wie ist es im "richtigen", sprich nicht virtuellen Leben? Hören Sie von Außenstehenden oft den "Rat", dass Sie abnehmen sollten?
Justyna: Noch immer gibt es Personen auf der Straße, die meinen, sich plötzlich das Recht herausnehmen zu können, mir beleidigende Sager ungefragt an den Kopf zu werfen. Meistens von hinten, und meistens von Männern. Es hat sich sogar verschlechtert, weil sich die Leute einzubilden scheinen, dass sie das, was sie virtuell ständig machen, auch auf der Straße tun können. Ich persönlich finde nicht, dass sich hier viel verändert hat.
Bobby: Ich hatte einmal eine Erfahrung mit einem Kellner – wieder ein Mann! – der zu mir meinte, als ich keinen Nachtisch bestellen wollte: "Na, sie hatten eh schon genug, ist besser so." Und das ist mir nicht nur einmal passiert. Die Art der Beleidigungen hat sich in den letzten Jahren geändert, habe ich das Gefühl. Statt Sager wie "Du fette ***!" rufen die Leute auf der Straße heute vielleicht zu mir: "Warum haben Sie mit ihrer Figur denn so etwas an?" – völlig wurscht, dass es niemanden etwas angeht, was ich anziehe oder was ich privat mache.
Gerade der Sommer kann eine schwierige Zeit für dicke Personen sein. Mehrgewichtige Frauen scheuen sich mitunter davor, im Bikini an den Strand oder ins Bad zu gehen. Welche Tipps haben Sie?
Justyna: Muss da' wurscht sein! Und wenn du beim Baden nicht alleine unterwegs sein möchtest, nimm dir Leute mit, bei denen du dich sicher und wohl fühlst.
Bobby: Es ist trotz aller guter Vorsätze in dem Moment selbst nie so einfach. Wenn man aber vor dem Spiegel steht und sich denkt "Soll ich das wirklich anziehen?", und es hat draußen 35 Grad und man will gerne schwimmen gehen, stellt sich hoffentlich irgendwann die Frage: Worauf wartest du eigentlich? Auf das OK einer Gesellschaft, die dir ohnehin nie ihr OK geben wird?
Inwiefern verorten Sie Diskriminierung und Stigmatisierung von Mehrgewichtigen im beruflichen Umfeld?
Bobby: Es gibt tatsächlich Studien, die zeigen, dass mehrgewichtige Frauen schlechter verdienen als mehrgewichtige Männer. Oder dass man gar nicht erst eingestellt wird, wenn man dick ist. Also ja, Diskriminierung passiert für Mehrgewichtige auch im beruflichen Kontext. Bodyshaming bei Bewerbungsgesprächen kommt oft vor – ähnlich, wie wenn man eine Frau fragt, ob sie schwanger werden möchte: Man sollte es nicht tun, aber es passiert nach wie vor. Da schwingt wieder stark das Vorurteil über dicke Menschen mit: Sie sind faul, langsam, dumm. Das Absprechen unserer Intelligenz ist im beruflichen Umfeld leider ein großes Thema – denn wie können wir intelligent sein, wenn wir dick sind? Da kann ich noch so sehr mit meinem Magister wedeln.
Justyna: Ich hatte vor vielen Jahren einen Job in der Gastronomie, für den ich eine Uniform tragen musste. Und ich musste erst nachfragen: Hat der Arbeitgeber das Gewand auch in meiner Größe? Eine normschöne Person mit Größe 38 muss über so etwas nicht weiter nachdenken. Bei meiner Hemdgröße 44/46 musste ich eigens auf den Teamchef zugehen und danach fragen. Allein dieser zusätzliche Schritt war ein großer mentaler Stress für mich.
Was würden Sie sich persönlich von der Gesellschaft und von Ihrem Umfeld wünschen?
Justyna: Ich würde mir wünschen, dass die Menschen mehr lesen, sich mehr über gewisse Themen informieren, reflektieren und auf einen zeitgemäßen Stand bringen.
Bobby: Respekt. Dieses Wort beinhaltet für mich sehr viel, etwa Akzeptanz und Verständnis. Und nicht einfach das Wiedergeben von Vorurteilen, die über Jahrzehnte eingetrichtert wurden. Dass ich an Menschen einfach vorbeigehen kann, ohne dass es sie etwas schert. Einfach ein respektvoller Umgang – den hätte ich gerne von allen Menschen für alle Menschen. Denn nur weil ich aussehe, wie ich aussehe, heißt es nicht, dass du weißt, wer ich bin.