Interview: "Kein Kind zu einem Prinzessinnenkleid zwingen"

Interview: "Kein Kind zu einem Prinzessinnenkleid zwingen"
Geschlechtssensible Erziehung betrifft alle Kinder, erklärt Psychotherapeut Wolfgang Wilhelm im Interview.

Als Leiter der Wiener Antidiskriminierungsstelle für gleichgeschlechtliche und transgender Lebensweisen (WASt) beschäftigt sich der Psychotherapeut Wolfgang Wilhelm viel mit Rollenbildern. Die neue Ratgeber-Broschüre „Vielfalt. Ich liebe mein Kind, so wie es ist!?“ soll Eltern helfen, richtig zu reagieren.

KURIER: Es macht den Eindruck, dass es jetzt ein stärkeres Bewusstsein für geschlechtssensible Erziehung gibt. Warum?
Wolfgang Wilhelm: Zum einen gibt es den  Trend aus der Frauenbewegung, dass wir Rollen nicht so starr sehen, Kindern neutrales Spielzeug anbieten und Jugendliche ermutigen, nicht geschlechtstypische Berufe zu ergreifen. Außerdem nehmen wir immer mehr gesellschaftlich wahr, dass es Kinder gibt, die sich mit ihrem Geschlecht nicht wohlfühlen, weil sie sich transgeschlechtlich empfinden oder intersexuell sind.

In einem viralen Video tanzen Vater und Kind zu Hause in Prinzessinnen-Kleidern. Der Vater hat ganz viel Beifall bekommen.
Eltern sind da ein wichtiges Vorbild. Wenn ein Kind Lust hat, mit einem Prinzessinnen-Kleid zu tanzen, dann soll es das. Aber gleichzeitig soll niemand zu einem Prinzessinnen-Kleid gezwungen werden. So können sich Kinder frei entwickeln und sich auch ausprobieren, ohne in ein Gender-Korsett gepresst zu werden.

Manche Kinder tendieren zum Auto oder zur Puppe, egal wie neutral das Spielzeugangebot ist.
Man kann endlos diskutieren, wie genderneutrale Erziehung wirkt: Natürlich gibt es genetische Prädispositionen, psychische Eindrücke, soziale Einflüsse. Aber wenn ich als Bub immer nur mit Autos spielen soll, werde ich lernen, dass das normal ist. Es klingt eigentlich ganz einfach, dass man einem Kind das schenkt, was es interessiert und nicht das, was zu seinem Geschlecht passt. Aber aus Kindergärten hört man immer wieder, dass es ein Problem ist, wenn ein Bub einen rosa Kostüm anzieht – da werden Eltern nervös.

Ihre Broschüre soll Eltern helfen, mit schwierigen Situationen umzugehen. Was wünschen Sie sich von ihnen?
Dass Eltern ihre Kinder in ihrer Vielfalt wahrnehmen und nicht in Geschlechtsklischees hineindrängen, etwa bei der Schulwahl. Und dass sie ihrem Kind jemanden wünschen, den es lieben kann, unabhängig vom Geschlecht. Aber die Elterngeneration ist in einer Zeit aufgewachsen, in der solche Fragen nicht offen besprochen wurden. Bei der Großeltern-Generation war Homosexualität noch verboten, bis 1971. Das Thema Homosexualität ist uns schon länger aufgebrochen, das dritte Geschlecht ist bei vielen erst mit dem Gerichtsurteil über das Geschlecht ‚divers’ zur Wahrnehmung gekommen. Und für viele Eltern ist ein Coming-out des Kindes eine Katastrophe. Sie glauben, sie haben etwas falsch gemacht.

Interview: "Kein Kind zu einem Prinzessinnenkleid zwingen"

Psychotherapeut Wolfgang Wilhelm beschäftigt sich viel mit Rollenbildern.

Was hat sich für Menschen geändert, deren Geschlecht nicht eindeutig ist?
Früher hat man gleich bei Neugeborenen eine Geschlechtsanpassung vorgenommen und viele haben ganz versteckt und verschämt gelebt. Bis vor fünf Jahren gab es nicht einmal eine Selbsthilfegruppe.

In der Netflix-Serie „One day at a time“ outet sich die Tochter und erklärt, wie ihre Freundinnen angesprochen werden wollen, als „sie“ oder anders.
Jetzt ist gerade eine Entwicklungsphase und in 20 Jahren werden wird zurückschauen, was wir richtig und falsch gemacht haben. Auf Englisch verwendet man manchmal statt Mr. oder Mrs. einfach Mx. Wir haben auf Deutsch nur Herr und Frau als Anrede, das wird sich vielleicht noch ändern. Aber ‚Es‘ kommt mir für Personen etwas eigenartig vor.

Wie merken Eltern, ob Kinder gerade in einer vorübergehenden Phase sind oder ob sich ihre Identität festigt?
Es ist eigentlich egal. In der Kindheit und Jugend probiert man etwas aus, das ist für die Identität sehr wichtig. Bei vielen Kindern, die im Kindergarten das andere Geschlecht bevorzugen, gibt sich das in der Pubertät wieder. Wenn ein Vierjähriger sagt, er ist ein Mädchen, kann das bedeuten, dass die Spiele der gleichaltrigen Buben ihn einfach nicht ansprechen und er deshalb in der Vierjährigen-Logik ein  Mädchen ist. Dann soll man ihn nicht in eine trans-idente Entwicklung hineinreden. Und wenn ein Bub rosa mag, heißt das nicht, dass er schwul wird. Erwachsene interpretieren gleich und projizieren in die Zukunft. Kinder leben im Moment, es geht dann nicht um die Frage: „Bist du ein Bub oder ein Mädchen?“, sondern um „Du bist mein Kind und dich liebe ich.“

Und wenn es ernst wird?
Wenn sich Jugendliche in der Pubertät ihren Eltern anvertrauen, müssen die unbedingt erkennen, welcher Vertrauensbeweis das ist, und das auch wertschätzen. Das bedeutet, dass sie ganz viel richtig gemacht haben. Wir sehen, dass Jugendliche vor dem Coming-out eine sieben Mal höhere Suizidversuchsrate haben als andere Kinder. Jugendliche haben in dieser Phase ganz arge Verlustängste. Da braucht das Kind viel Unterstützung und den Satz „Ich liebe dich, egal, wen du liebst“.

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