Der fragt nicht, wie echt das Alles auf der Bühne sein darf, sondern im Gegenteil: Brook prägte die Theaterlandschaft nachhaltig damit, selbst das ohnehin artifizielle Theaterspiel auf seine Künstlichkeit zu reduzieren, bis am Schluss nur noch die Idee von Theater übrig bleibt. Hier rinnt kein echtes Blut, hier wird keine echte Revolution durchgespielt, hier funktioniert Nacktheit nicht über den Körper, sondern über (fast) leere Räume, entemotionalisiertes Spiel - und die Kraft, den Zauber der Stücktexte selbst.
Wer allzu brav die Performancemaschine auch abseits der Festwochen abarbeitet, der muss hier sein Denkvokabular in Zaum halten: Brooks Theaterzauber wirkt vorderhand, gemessen an der diskursverliebten und auf emotionalen Hochtouren laufenden Performancebranche, als naive Altherrenkunst aus dem Fundus der Geschichte. Aber wer sich bei diesem Gedanken ertappt, für den liegt ein zweiter, höherwertiger bereit: Denn die Sache funktioniert auch umgekehrt. Das "Tempest Project" darf man ebenso als Erinnerungsvorlage daran lesen, dass sich Bühnenmoden wandeln (wer erinnert sich noch ans Regietheater?), dass aber die Sehnsucht nach Erzählungen, nach dem Stoff, aus dem die Träume sind - wie Prospero eben in Shakespeares "Der Sturm" hochzitabel sagt -, jenseits dieser Moden ein bestimmendes Element des Menschlichen ist und bleibt.
Im Jugendstiltheater also beim "Tempest Project", dessen Premiere der 2022 gestorbene Theatermacher noch erlebte, gab es genau das, eine Einladung zur gemeinsamen Betrachtung von Liebe, Verrat, Unterdrückung, Freiheit und Macht. Hier ist nichts echt, auch nichts gespielt, hier wird nichts vorgegeben und alles angedeutet - und so werden Denk- und Fühlräume eröffnet, die, stellt man das von vorgeblicher Echtheit auf der Bühne verpickte Sensorium drauf ein, umso resonanter nachhallen.
Brook und seine Mitarbeiterin Marie-Hélène Estienne, mit der er den Abend entwickelte, konfrontieren zentrale Paare miteinander. Prospero und seine Tochter, Prospero und seine Diener, die Liebenden und die Narren. Ery Nzaramba als Prospero verharrt dabei in einer permanenten Textbetrachtung, er schaut den Worten nach, die er spricht, er absorbiert die Emotionen, die die anderen anbieten.
Ariel (Marilù Marini) beschwört und, nach einem letzten Zauberabenteuer, erhält die Freiheit; Prosperos Tochter Miranda (Paula Luna) beschwört und erhält die Liebe. Sylvain Levitte will sich als Caliban die Freiheit ertrotzen und spielt zugleich den Königssohn Ferdinand, der sich - als wäre er Teil des Publikums - passiv dem Liebeszauber der Worte hingibt.
85 Minuten lang also folgt man den feinen Fäden, die da durch den Jugenstilbau gesponnen werden, und selbst etwas eigentlich wenig Spektakuläres wie die Besetzung von Trinculo und Stefano mit den Zwillingen Luca und Fabio Maniglio, als der eine gerade - ganz klassischer Theatertrick - unter einem Tuch versteckt ausharrt und plötzlich der andere, gleich Aussehende aus dem Off kommt - erscheint da plötzlich wie ein Zaubermoment.
Am Heimweg belauscht man, wie der Luftgeist Ariel, eine Besuchergruppe, die darüber spricht, ob das das letzte klassische Theaterstück gewesen sein wird, an das man sich in 40 Jahren erinnert, weil diese Kunstform ja sonst vom Aussterben bedroht ist. Beim Theater geht es ja, man erinnert sich, darum, seine eigene Ungläubigkeit dem Bühnengeschehen gegenüber für die Dauer der Aufführung auszusetzen; man muss das da oben auf eine spezielle Art glauben, obwohl man weiß, dass es nicht echt ist, sonst klappt es nicht. Und auch wenn man dann an Zauberwesen und echte Liebe und Freiheit glauben muss - lauter sehr, sehr unwahrscheinliche Dinge, oder? -, an eines glaubt man nicht: dass das Theater stirbt.
Kommentare