Von Woodstock zu Billie Eilish: Festivals zwischen Nostalgie und Verklärung
Wer in diesen Tagen der Woodstock-Nostalgie wissen will, wie es den jungen Menschen von heute in jener Welt geht, die die Generation Love and Peace ihnen gerade übergibt (Privatverkauf, keine Garantie, starke Gebrauchsspuren), der sollte heute um 18.25 Uhr in St. Pölten sein.
Dort findet bis Samstag das Frequency Festival statt, und nein, das ist natürlich kein Woodstock. Wobei ja auch Woodstock nicht das Woodstock war, dessentwegen sich jetzt alle gegenseitig auf die Schultern klopfen.
Dennoch lohnt sich der Blick darauf, was Jugend heute heißt, insbesondere dann, wenn die Jugend von einst sich die Vergangenheit zurecht-verklärt.
Es wird dabei niemanden überraschen, dass das mit dem Jungsein heute nicht gar so leicht ist. Und kaum jemand steht in der Popmusik derzeit so für diese schwierige Warteposition, wie die 17-jährige Billie Eilish.
Dass sie heute, wie gesagt um 18.25 Uhr, in Niederösterreich zu sehen ist, das ist eine glückliche Fügung: Denn so am Puls der Zeit ist der vergangenheitsverliebte heimische Festivalbetrieb, in dem Headliner gerne auch mal im Pensionsalter sind, kaum je.
Ich wünschte
Eilish hat mit ihrem Bruder ein Album aufgenommen, und „When We All Fall Asleep, Where Do We Go?“ hat das bestätigt, was ihre Fans zuvor schon auf Instagram gesehen haben. Ja, die Amerikanerin war berühmt, noch bevor ihr erstes Album erschienen ist, und ja, das funktioniert heute so, mit einem eigenen Stil auf Instagram und YouTube.
Und es ist auch irgendwie logisch, denn da die Babyboomer, mit dem Zeitalter der Liebe auf den Lippen, alle Ressourcen – Autos, Wohnungen, hochbezahlte Jobs, und auch schon viel von der Zukunft – an sich gerissen haben, bleibt den Jungen halt die Bilderwelt.
Nun aber hat sich bei Eilish die Musikwelt dazugestellt, und zum Glück hält die, was das Image versprochen hat. Eilish hat ein mal schwarzumrandet fröhliches, mal sarkastisches, mal hedonistisches Musikbild davon abgeliefert, wie man die Teenagerjahre überlebt.
Und was man da so durchmacht: Angst und Minderwertigkeitsgefühle, peinliche Eltern und Drogen, die Kompliziertheiten des Kompromissschließens und die vielen, vielen Fragen, denen sich kaum je eine Antwort beistellt.
Das sind bekannte Themen, man wird sich vielleicht erinnern, aber frisch upgedatet. Mit einem Hip-Hop-informierten Sound, der in der aktuellen Musikwelt bestehen kann, mal mit hinterlistig lustiger Ukulele, mal mit fernen Echos der elektronisch angetriebenen Tanzböden der 90er Jahre. Ufz ufz ufz. Musikalische Grenzziehungen? Die sind gnädig im Grau der Geschichte verschwunden.
Du wärst schwul
Dabei zieht Eilish viele, sehr feine Grenzen, jene sprachlichen zwischen den Bedeutungsebenen etwa, die derzeit eine der Verhandlungsmassen zwischen Jung und Alt sind. Ich wünschte, du wärst schwul, singt sie einem unerreichbaren Schwarm entgegen, und sowas zu sagen ist den Eltern natürlich schon lange verboten.
Zugleich spielt Eilish mit Erwartungshaltungen, sie erwehrt sich der durchsexualisierten Welt – die könnt ihr euch behalten – mit weiten Gewändern und wirren Mustern. Und es ist auch stimmig, dass einige der Figuren auf ihren 250-Dollar-Merchandising-Pullovern von japanischen Comiczeichnern geklaut waren. Die Bilder, sie gehören uns.
Wie sich das live übersetzt (und in die alkoholdurchfütterte Stimmung des Festivals passt), das kann man in Österreich nun erstmals erleben. Gut möglich, das Billie Eilish hochpersönliche Kopfhörermusik ist, und dass man sich als Über-20-Jähriger ohnehin nur dann noch jung fühlen darf, wenn man alleine ist.
Die Arena-Besetzung als Wiener Woodstock: „Wir sind die, vor denen eure Eltern euch gewarnt haben“
Love and Peace kamen zeitverzögert. Woodstock 1969 erreichte die meisten Österreicher erst zwei Jahre später via Kino. Der Wiener Gastronom Attila Corbaci war vierzehn, als er die Dokumentation über die berühmten vier Tage im August auf der Leinwand des Apollo-Kinos sah.
Er kannte Jimi Hendrix, Janis Joplin und Carlos Santana aus dem Radio, doch mehr noch als die Musik faszinierten ihn die Bilder, die er sah. „Schon die Anfangsbilder fesselten mich. In den jungen Menschen, die auf das Woodstock-Gelände kamen, habe ich ein Symbol von Freiheit gesehen. Ich war hochpubertierend, dachte über den Sinn des Lebens nach und fühlte mich von diesen Leuten, so fern sie auch waren, intuitiv verstanden.“
Jugendkultur war im Wien der späten 60er ein rares Gut. Freiräume für Jugendliche gab es so gut wie keine. „Wien war für uns Junge eine Wüste“, erinnert sich der Raumplaner Helmut Hiess, damals fünfzehn. Von Woodstock hatte er in der Schule gehört – von einer fortschrittlichen Lehrerin. Abseits dieses progressiven Geistes war Wien „wie ausgestorben. Als Jugendlicher bin ich von der Innenstadt zu mir hinaus nach Ottakring durch einsame Straßenzüge gegangen. Es war stockfinster. Ich hab mir immer gewünscht, es wäre belebter.“
Kampf um langes Haar
Die Hippie-Bewegung bahnte sich zögerlich ihren Weg durch die Straßen der Stadt. In Helmut Hiess’ Schule, der Maroltingergasse, waren immerhin lange Haare erlaubt – bei den Eltern setzte er diese nur mit „hartem Kampf“ durch. Politisch war man vor allem im übertragenen Sinn: Gegen die Leistungsgesellschaft und ihre Konventionen. Die Musik, die in Woodstock gespielt wurde, hörte Hiess im Radio – es waren die Anfänge der legendären Radiosendung Musicbox.
Auch, wenn sich Hiess im Nachhinein nicht zu den großen Umstürzlern zählt: Bei der Arena-Besetzung sieben Jahre später war auch er dabei und lauschte, als die Schmetterlinge die „Proletenpassion“ zum Besten gaben.
Arena, unser Woodstock
Die Arena-Besetzung war für viele das Woodstock Wiens – ein Symbol für Freiheit und Aufbruch. Die Künstlerin Lore Heuermann war ein paar Jahre zuvor nach Wien gekommen und über den Mief der Ewiggestrigen geschockt. „Man fragte mich, ob ich aus dem Reich komme. Nicht, dass es nicht auch in Deutschland noch alte Nazis gegeben hätte, aber Wien hat mich da doch überrascht.“
Den Sommer 1976 verbrachte auch Heuermann bei den Arena-Protesten in St. Marx, wo Künstler und Jugendliche gegen den Abbruch des Schlachthofes und für ein Kulturzentrum mobil machten. Keimzelle der Arena-Bewegung waren die Proteste gegen die Weiterführung der Westautobahn bis über den Naschmarkt gewesen, was im Gegensatz zum Abriss des alten Schlachthofes verhindert werden konnte. Das Areal in St. Marx wurde zum Ort eines neuen Kulturverständnisses. Konzerte, Performances und Diskussionen brachten Tausende hierher. Wiener Folk- und Rockmusiker trafen auf internationale Stars wie Leonhard Cohen und auch die Bevölkerung unterstütze die Bewegung und versorgte die Protestierenden mit Kaffee und Kuchen. Heuermann: „Während der Besetzung stürzte die Reichsbrücke ein. Ich sah das als Symbol für den gewaltigen Ruck, der damals durch die Gesellschaft ging.“
Wendepunkt Abrissbirne
Die Abrissbirne war eines der beliebtesten Instrumente der Wiener Stadtpolitik der 1970er. Die Proteste dagegen wurden zu großen sozialen Wendepunkten. So sollten damals großflächig Ensembles des Spittelbergs abgetragen werden. Bürgerproteste verhinderten das und der Spittelberg wurde 1973 unter Schutz gestellt. Zwei Jahre später wurde dort das Amerlinghaus besetzt – Studenten und Anrainer forderten ein Kommunikations- und Kulturzentrum. Es folgten Ähnliche Aktionen an weiteren Orte wie dem WUK und der Gassergasse, die beide später zu Kultureinrichtungen wurden.
Auch Gabriele Zuna-Kratky, heute Direktorin des Technischen Museums, war damals bei den Hausbesetzungen und Protesten dabei. „Während im Hawelka die Leute in den Lodenmänteln saßen, waren wir in der Arena. Dann kamen das WUK und die Gassergasse. Anlässlich der UNO-City-Eröffnung gab es eine große NGO-Konferenz – und die Gründung des Forum Alternativ mit dem Vereinslokal Rotstilzchen. Sogar Innenminister Erwin Lanc kam damals – unter den wachen Augen der Staatspolizei – zu einem Vortrag bei uns ,Alternativen’.“
Vieles habe man seither erreicht, sagt Zuna-Kratky: „Wer hätte das gedacht, als wir 1977 in einer WG als die verrückten Studenten galten, auf deren Türschild stand: ,Wir sind die, vor denen euch eure Eltern gewarnt haben.’ “
Festival-Lebensgefühl: Zwischen #MeToo, Selfie-Wahn und Umweltschutz
Fünf Millionen Fotos findet man auf Instagram unter dem Schlagwort #Coachella. Das Mega-Festival in der kalifornischen Wüste ist so etwas wie der Rummelplatz der Modeblogger und Influencer geworden, die perfekte Kulisse für Selfies mit Blumenkranz, bauchfreiem Fransentop und Gladiatorensandalen. Große Modeketten wie H&M bieten dafür längst eigene „Festival Kollektionen“ an, schließlich kann man sich der Instagram-Gefolgschaft nicht jedes Jahr im selben Look präsentieren.
Ach ja, Musik gibt es dort auch, heuer waren etwa Beyoncé und Ariana Grande zu Gast. Interessanter ist aber die Bühne abseits der Bühne. Das Coachella versteht sich als Woodstock-Nachfolger – ob den Hippies von damals die Kommerzialisierung von heute gefallen hätte, darf bezweifelt werden. Es macht aber deutlich, wie sehr Festivals immer auch gesellschaftliche Entwicklungen spiegeln.
Mehr Komfort, bitte
"So, wie sich die Gesellschaft und die Kultur verändern, verändern sich natürlich auch Festivals“, berichtet Harry Jenner, 47. Er zieht die Strippen hinter dem Frequency Festival, das heute – auf den Tag genau fünfzig Jahre nach Woodstock – zum 19. Mal stattfindet. In seinen Jahren als Organisator merkte auch er, wie sich die Festivalkultur gewandelt hat. „Am deutlichsten ist, dass die Besucher heute mehr wert auf Komfort, Qualität und Sicherheit legen.“ Große Festivals bieten Glamping-Plätze an, also „glamouröse“ Campingplätze mit WLAN und Wasser-WC. Mit eigenen Zeltplätzen für Frauen, Hotlines und speziell geschultem Sicherheitspersonal reagieren viele Veranstalter auf die Debatte um sexuelle Belästigung. „Mein Eindruck war aber, dass die Mädels lieber unter dem Festivalvolk campen“, berichtet Jenner.
Pro Zelt ein Baum
Auch die „Fridays for Future“-Bewegung hält langsam Einzug auf den Festivalwiesen dieser Welt. Auf dem Nova Rock, mit 220.000 Besuchern das größte nicht kostenlose Festival Österreichs, gibt es nur noch plastikfreies Gemüse und Wein aus der Region zu kaufen, leere Dosen werden mit Gratis-Getränken belohnt. Beim großen Festival-Bruder im hippen Kalifornien sollen von Künstlern gestaltete Mistkübel zum Entsorgen anregen, Zelte können am Ende für wohltätige Zwecke gespendet werden.
Auch auf dem Frequency zeigt man Öko-Bewusstsein. Für jeden Besucher, der sein Zelt wieder mitnimmt, wird in Südamerika ein Baum gepflanzt. „In den letzten zwanzig Jahren ist das Umweltproblem immer größer geworden. Wir werden sehen, wie die Leute die Neuerung annehmen – ich glaube aber, dass die junge Generation dafür sensibilisiert ist“, sagt Jenner.
Bleibt zwischen Luxus-Zelt und Klimaschutz der Rock’n’Roll auf der Strecke? „Da muss man sich keine Sorgen machen“, sagt der Veranstalter und lacht. „Die geben schon noch ordentlich Gas.“
An drei Tagen (Donnerstag bis Samstag) sind jeweils knapp an die 50.000 Musikfans auf dem VAZ-Gelände in St. Pölten. Sie sehen ein variationsreiches Programm, etwa mit dem Gute-Laune-Rap mit sozialkritischer Botschaft von Macklemore bis hin zum US-Duo Twenty One Pilots.
Ein Superstar seines Fachgebiets ist der österreichische Rapper Capital Bra, härter wird es bei den Prophets of Rage oder The Offspring. Mehr in der Mitte der Gesellschaft rangieren Sunrise Avenue, hörenswert abseits dessen sind sicher Mavie Phoenix und, auf der kleinen Bühne, Moop Mama.
Die Festivalpässe und der Donnerstag mit Billie Eilish sind ausverkauft, für Freitag und Samstag gab es noch Tagespässe. Info unter www.frequency.at
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