Not, Liebe, Lüge und Illusion: 50 Jahre Woodstock-Festival
Er hat den Braten natürlich gerochen. Höchste Zeit, diesen Typen, die sich nur fürs Geldverdienen interessieren, nachdrücklich die Meinung ins Gewissen zu brüllen. Abbie Hofmann, hauptberuflich ein politischer Aktivist, verspürt den Drang zur einschüchternden Radikalität und ist mit seiner Wortwahl nicht zimperlich:
„Wir werden dein verficktes Festival in Grund und Boden stampfen, bis dir alles um deine beschissenen Ohren fliegt, wenn du nicht auf unsere Forderungen eingehst.“
Für Micheal Lang und seine Gefolgschaft wird es immer enger. Anfang August 1969 erst 24 Jahre alt, bleibt er bei seinem Plan, dieses Riesenhappening zu veranstalten. Über die Bühne gehen soll es in Bethel, dem aus der Not und in wohl letzter Konsequenz entdeckten, 80 Kilometer von Woodstock entfernten Ort im US-Bundesstaat New York. Hofmann wird jedenfalls kriegen, was er verlangt. Wenigstens 10.000 Dollar, und vor allem die Gelegenheit, auf dem Festivalgelände weitere Reden zu schwingen.
Der von Lang überlieferte Vorfall ist nur ein Beispiel, warum und worum sich 50 Jahre später weiterhin die Mythen ranken. Wie sich Wahrheiten, Verklärungen und Lügen zur Mixtur der Erinnerungen vermischen, die 2019 stapelweise in Zeitschriften und Büchern ihr Jubiläum feiern.
Kopfzerbrechen
Muss sich das „Woodstock Music & Art Fair“ tatsächlich vorwerfen lassen, den offiziellen Anfang einer Kommerzialisierung der Rockmusik getan zu haben?
Oder ist es doch ein kollektiver, nur punktuell festgehaltener Aufschrei der ohnehin existierenden gegenkulturellen Bewegung, der logische Schritt weg von der gesetzgebenden Elterngeneration? Die Forderung nach Gleichberechtigung, der freien Liebe, bloßes Nacktsein, eine von Marihuana und LSD beschleunigte Realitätsflucht?
Zugleich der politisch motivierte Protest gegen ein verkommenes Establishment, befeuert von den Morden an Martin Luther King und Robert Kennedy im Jahr zuvor, dem Amtswechsel der Hassfiguren Lyndon B. Johnson und Richard Nixon, dem immer tiefer sitzenden Schock über die Brutalität der eigenen Nation, die an nur einem Tag einen 3000 Tonnen schweren Bombenteppich auf Vietnam fallen lässt?
All dies bleiben auch im Jahr 2019 ständige Reibungspunkte zwischen Nostalgie und wissenschaftlichem Realitätsanspruch, stets vereint durch die beinahe zwanghafte Suche nach Einordnung, Zusammenhängen und Nachhaltigkeit.
Spaßverderber
Ein halbes Jahrhundert nach Woodstock wirft der Spiegel Mansons Mordlust in die Blumenwiese von Love&Peace. Der Rolling Stone bezeichnet Michael Langs Befürchtung vom finanziellen Desaster (1,3 Millionen Dollar?) als „Notlüge“. Andere Musikzeitschriften pendeln zwischen Zweifel und Würdigung. Wieder aufgelegte Bücher versprechen statistische Genauigkeit, bieten frisch ausgegrabene Momentaufnahmen vom ewigen Motiv der lachenden, müden, zugekifften und schlammverkrusteten Menschen.
Also, was jetzt?
Ewig bemerkenswert und mit heutigen Maßstäben unbegreifbar bleibt ....
... wie sich eine Million motiviert – lange vor der Entdeckung des Internets –, ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Die Hälfte schafft es, eine Großzahl davon nimmt 24 Kilometer Fußmarsch vom abgestellten Auto bis zum Festivalgelände in Kauf. Niedergerissene Zäune machen Zu- und danach den Eintritt frei.
... wie Max Yasgur, ein herzkranker, stockkonservativer Milchbauer, sämtliche Berührungsängste verliert und einem Haufen langhaariger Andersdenkender ein Stück Land verleiht. Yasgur hält Anfeindungen stand („Stoppt Max’ Hippie-Musikfestival“) und wird als 49-Jähriger zum generationsfremden Star der Veranstaltung.
... mit welch unverrückbarer Milchmädchenrechnung in den Tagen der ersten Mondlandung die Möglichkeit des Massenansturms auf eine Wiese unterschätzt und erlaubt wird. Gezählt und gestoppt wurden vorab im New Yorker Yankee Stadium die Anzahl der Toilettenbenützer und die Dauer ihrer jeweiligen Bedürfnisbefriedigungen. Der Sicherheit zuliebe rücken 346, nach dem Grad ihrer Friedfertigkeit ausgewählte Polizeibeamte aus New York an. Für 100 Dollar am Tag. Ungefähr 100 Mitglieder der Hog Farm, einer Hippiekommune aus New Mexico, werden eingeflogen, um sich der Verpflegung und Hilfeleistung im Fall des Drogenmissbrauchs zu widmen.
... wie es drei, fast vier Tage lang eine derart große, oft durchnässte, schlaflose, meist von Nahrungszufuhr abgeschnittene Masse schafft, ohne nennenswerte Auseinandersetzung auszukommen. Aus der Vogelperspektive offenbart sich das Chaos, Gouverneur Rockefeller erklärt das Gelände zum Katastrophengebiet. In der Bilanz ruhen drei Tote. Die Ursachen: eine Überdosis, ein Blinddarmdurchbruch, ein von einem unachtsamen Traktorfahrer überrollter nicht verlassener Schlafsack.
Verschlafen
In Österreich, von Woodstock nicht nur geografisch ziemlich weit entfernt, verharrt das Festival im August 1969 im Insiderwissen und sowieso außerhalb der herrschenden Bürgerlichkeit. Der KURIER schrieb zum Beispiel keinen Beistrich darüber.
Was Woodstock erst ein Jahr später zum weltweit historischen Ereignis erhebt und tatsächlich als Anstoß gelten kann, die Bedürfnisse einer Jugendkultur erstmals in großem Stil geschäftsträchtig zu verwerten, ist Michael Wadleigh’s umfassendes, oscarprämiertes Film-Dokument. Der Streifen und der aus dreifachem Vinyl bestehende Soundtrack sind nicht nur die finanzielle Rettung für Michael Lang und seine Mitstreiter.
Für die Vertreter jener Generation, die 1969 noch zu jung war, um Veränderungen abseits ihrer wohlbehüteten Welt auch nur im Ansatz zu kapieren, bedeutet es die epochale Entdeckung einer revolutionären Show.
Noch tief in den 1970ern ignorieren Jugendliche im Linzer Ohne-Pause-Kino die eigentliche Funktion der Kassiererin, um „Woodstock“ zum zehnten Mal als Gratisvorstellung zu erleben. Wer mit Musik lebt, liebt die Helden von Woodstock. Amen. „Der, oder die war dabei“, lautet der einfache Satz der Heiligsprechung. Bis zum völligen Zerkratztsein drehen sich Ten Years After, Jimi Hendrix, The Who und Janis Joplin auf dem Plattenteller. Aufkommende Panik vor dem Discofieber legitimiert zur als intellektuell erachteten Äußerung: „Wir spielen nur progressive, keine Proletenmusik.“
Progressiv? Es gilt auch die sehnsüchtige Rückschau auf Versäumtes.
Woodstock. Ein Name soll für Musiker und Bands jahrelang ein gültiges Gütesiegel bleiben.
Hendrix hat das zwar nicht mehr nötig, lässt aber die Experten ratlos zurück, ob er „Star-Spangled Banner“ tatsächlich ins Anti-Vietnamkrieg-Statement übersteuert hat.
Eine bis dahin eher mit jazz-rockigen Elementen experimentierende Band wie Ten Years After prägt ihr künftiges Image durch ein gitarrenüberflutetes, stampfendes „Goin’ home“. Joan Baez bekommt rückwirkenden Applaus, weil sie im Jahr 1969 in weiser Voraussicht den damaligen Gouverneur von Kalifornien, Ronald Reagan, als Inhalt eines Protestsongs („Drugstore Truck Driving Man“ ) bereits durchschaut hat. Und die unzerstörbare Erinnerung an seinen zappeligen Auftritt („With a Little Help from My Friends“) ist Joe Cocker sicherlich hilfreich, um auch noch in den 80ern mit dem wiederum aufgewärmten „Leave your Hat on“ in die konservativste Plattensammlung zu schlüpfen.
Geisterbeschwörung
Offen bleibt die quälende Frage, was tatsächlich blieb. Schon Ende 1969 passiert auf dem Altamond-Festival vor den Augen der Stones ein Mord, wahrhaftig stirbt die Illusion der Weltverbesserer im April 1970 in Ohio mit vier von der Nationalgarde erschossenen Studenten.
Der Versuch, Woodstock 1994 wiederzubeleben, versinkt im Schlamm von „Mudstock“. 1999 endet Michael Langs längst gewinngeleiteter Traum, den letzten Hauch von 1969 ins MTV-Zeitalter zu tragen, im Fiasko. Noch vor zehn Jahren glaubt er, ein schon ziemlich zerzauster Geist von Woodstock habe als Zeichen der Wende Barack Obama auf den Präsidentenstuhl gehoben.
2019? Es wird wieder verdammt eng für Michael Lang. Zu eng. Vor wenigen Tag wird sein geplantes Festival zum 50-er überhaupt abgesagt.
Woodstock.
Rest In Peace. Wo auch sonst.
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