Und dann kam der Sommer: Die Infektionszahlen gingen zurück, auch die Salzburger Festspiele fanden statt – wenngleich mit einem reduzierten Programm.
Alle haben sich in Sicherheit gewiegt, dass alles wieder so sein wird wie immer. Man war besonders empfänglich für diese wiedergewonnene, aber trügerische Freiheit. Und dann kam der Herbst. Es rastete laut etwas Teuflisches ein. Wieder musste der Beweis geführt werden, dass wir relevant sind – unter noch schwierigeren Bedingungen.
Mit Bestemm und Präventionskonzepten sollte der Vorstellungsbetrieb aufrechterhalten werden.
Ein mittelständischer Betrieb mit 600 Angestellten, der unsichtbare, flüchtige Werte herstellt. Trotzdem werden wir so behandelt, als wären wir Produktehersteller. Das Burgtheater ist ja Teil einer Holding. Und seit der Ausgliederung vor zwei Jahrzehnten herrscht eine Sprache der Ökonomie. Der Direktor muss dem Aufsichtsrat nicht berichten, was er inhaltlich plant, er muss Zahlen liefern. Da entstand eine Schieflage. Und die zeigt sich nun extrem. In der Beweisnot sagt man daher, dass Kultur ein Lebensmittel sei. Aber das stimmt so nicht. Ein Lebensmittel hat eine andere Qualität. Ich brauche es, um nicht zu verhungern. Kultur hat jedoch nichts mit Nahrungsaufnahme zu tun.
Aber sie ist geistige Nahrung?
Ich weiß natürlich, dass ich mit meinem Spiel nicht die Welt verbessere, oder doch? Aber löse ich etwas beim einzelnen Zuschauer aus, was ihn bestenfalls aus seinem gewohnten Rhythmus bringt. Weil er etwas erlebt. Das ist der Deal, die Verabredung jenseits von Rentabilität. Wenn es aber diese Übereinkunft nicht gibt, dass Theater, Kultur im weitesten Sinn, Kosten verursacht und nicht Gewinne lukriert, kommen wir immer wieder in Beweisnot. Fühlen wir uns dann gezwungen, etwas unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten herzustellen. Und so kam es zu diesem Streaming-Wahnsinn. Um zu zeigen: Wir arbeiten! Die Wohnräume der Schauspieler wurden für die Kameras geöffnet. Man hat damit ein Geheimnis gelüftet. Wenn Schauspieler wieder auftreten, wird man immer auch über ihre Sitzecken und Küchenzeilen nachdenken. Das hat sich dann zum Glück wieder beruhigt. Aber trotzdem stieg der Druck, sich über das Streaming als Videobeweis an die Öffentlichkeit zu wenden.
Und die Ergebnisse waren künstlerisch zumeist enttäuschend.
Wenn man das will, müsste man eine neue Sparte gründen, die Sparte „Streamen von Inszenierungen“: Man müsste zehn Kameraleute verpflichten – und einen Regisseur, der darauf spezialisiert ist. Aber das kostet ordentlich Geld. Abfotografiertes Theater hingegen ist meist langweilig, weil Theater eine Verabredung außer Haus ist: Möglichst viele Leute treffen sich in einem Raum, auf der Bühne tritt jemand auf – und die Zeit steht still. Es wird nichts hergestellt und es ist manchmal langweilig. Und das, was stattfindet, ist außerhalb jeder ökonomischen Vernunft. Und das war schon immer so.
Sie meinen?
Zumindest, seit der Mensch Jäger und Sammler ist. Denn um zwei Uhr hatte er alles gesammelt oder gejagt, was er für den nächsten Tag braucht. Und dann hat er sich gelangweilt. Er fing an, an Felswänden all die Herden aufzumalen, die er nicht erlegen konnte. Das ist Kultur! Da hat man sich auch nicht gefragt: Was bringt es? Das Aufmalen war eben das Spiegeln von all dem, was man lebt, sich wünscht. Es ist ein Versuch, das Leben zu verstehen.
Was ist für Sie der Sinn des Lebens?
Der Sinn des Lebens ist nicht, etwas herzustellen und dann zu sterben. Sondern: Das eigene Leben ist eine Staffelübergabe – von den letzten tausenden Jahren zu den nächsten tausenden Jahren. Das hat Sinn, das ist tröstlich. All diese Fragen – nach Wahrheit, nach Liebe, nach Glück, nach Krise, nach Unterwerfung, nach Dominanz, nach Freiheit – können im Theater diskutiert werden. Denn da reißen wir drei Stunden aus der Wirklichkeit raus. Und es wird, wenn man der Legende glaubt, kein Schaden sein. Denn all die Stunden, die man im Theater verbringt, werden einem am Ende gutgeschrieben und man lebt um diese Zeit länger. Wir sollten uns daher für diese coronabedingte Auszeit nicht entschuldigen müssen. Und wir sollten diese Zeit nutzen.
Für was? Den meisten Direktoren ist unglaublich wichtig, dass der Probenbetrieb weitergehen kann …
Das ist genau das, was mich gegenwärtig bedrängt: Man ist nicht mehr in einem Schwebezustand, denn das schlechte Gewissen ist bereits so groß, dass wir ununterbrochen produzieren – auf Halde. Es gibt einen ungeheuren Output, aber niemand hat die Inszenierungen gesehen. Wir sollten vielleicht mal innehalten, warten und horchen.
Weil dann etwas Neues entsteht?
Ja! Unser Götze ist das Wachstum. Wir reden auch von Minuswachstum und Nullwachstum, also von Paradoxien. Aber wir glauben, dass Wachstum der einzig glücklich machende Faktor ist. Das Glück ergibt sich dann quasi von allein. So wächst auch die Zahl der nichterlösten Inszenierungen. Natürlich wollen wir nicht, dass Betriebe Pleite gehen, weil der Konsum ausfällt. Aber vielleicht kann man über diese Erhitzung nachdenken? Über Qualität, nicht über Quantität. Denn man wirft derzeit irgendwelche Konsumgüter auf den Markt und weiß: Irgendwer wird sie schon kaufen – und zwar jenseits der Bedürfnisse. Ja, wir sollten über Qualität nachdenken – nicht nur im Konsum, sondern auch im Theater. Es besteht die Gefahr, dass die Politik und wir als Gesellschaft nicht begreifen, dass nur die unsichtbaren Werte uns auf Dauer am Leben erhalten werden.
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