Bogdan Roščić: „Die Welt in ihrem ganzen Wahnsinn spürbar machen“
Seit der Wiedereröffnung der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Staatsoper 1955 gab es keine Intendanz, die unter schwierigeren Bedingungen beginnen musste. Trotz Schließung schafft es der neue Operndirektor aber, das Theater präsent zu halten. Manche sagen sogar, selbst der eingeschränkte Betrieb sei lebendiger als vieles davor.
KURIER: Seit Sie im September die Leitung der Wiener Staatsoper übernommen haben, gab es nur zwei Monate lang einen regulären Spielplan – und auch den nur für eine beschränkte Besucherzahl. Nun ist das Haus seit 3. November für das Publikum überhaupt gesperrt. Wie existenzbedrohend ist eine solche Situation für ein Opernhaus? Bogdan Roščić: Das ist letztlich keine ökonomische, sondern eine politische Frage. Aber rein wirtschaftlich betrachtet verdient die Staatsoper eben knapp unter 50 Prozent ihres Budgets selbst – das ist relativ einzigartig für so ein Haus, üblich sind eher unter 20. Wenn man monatelang keine Karten verkaufen kann, gibt es also ein sehr reelles Problem. Gleichzeitig haben wir das Privileg, dass die Republik unser Eigentümer ist und, wie die letzten Monate gezeigt haben, auf uns schaut. Wir können für über 800 Mitarbeiter Kurzarbeit-Mittel in Anspruch nehmen. Das ist essenziell, weil das Budget eines Opernhauses entgegen anders lautenden Gerüchten ja fast nur aus Personalkosten besteht. Die Investitionen in Neuproduktionen machen irgendwas um sechs Prozent aus.
Grundsätzlich hört man aber aus der Szene ständig Kritik am Umgang der Regierung mit Kultur.
Manches davon scheint mir weniger Kritik als eher eine etwas untertänige oder vielleicht sogar narzisstische Kränkung. Wenn man wieder einmal feststellen muss, dass die Politik die gute Meinung, die man von ihren Prioritäten hat, nicht bestätigen möchte. Ich persönlich habe dieses Bedürfnis nicht. Auf die Staatsoper reduziert muss man konstatieren, dass sie bisher geschützt wird und ihre Bedürfnisse bei den kulturpolitisch Verantwortlichen ordentlich anmelden kann. Mir schmeckt Vieles am Lockdown nicht, aber wo in Europa ist denn die bessere Alternative? Vergleichen Sie das mal mit anderen Ländern wie Großbritannien. Man muss jetzt in Gedanken in die Zeit nach der Durchimpfung springen. Was, wenn die viel größere Bedrohung das ist, was gerade mit uns allen passiert, mit unseren Vorstellungen von Nähe und Distanz zum Beispiel?
Haben Sie eine mögliche Antwort darauf?
Ich glaube, dass es längerfristige Auswirkungen geben wird, dass ein Lebensgefühl verlorengehen kann. Ich frage mich bei meinen Kindern ständig, welche unkalkulierbaren Spätfolgen das haben könnte, wenn Unterricht und Kontakt mit anderen Kindern ein Jahr lang nur über irgendwelche Screens stattfindet. Und bei Erwachsenen? Ist unsere Vorstellung von zulässiger persönlicher Nähe schon so verändert, dass man sozusagen ratlos vor der Bestuhlung eines im 19. Jahrhundert erbauten Theaters steht? Vielleicht werden viele in Zukunft ganz gut leben mit einer neuen Distanz, physisch wie mental. Für das Theater ist das tödlich.
Nach der spanischen Grippe gab es in den 1920er Jahren eine stark erwachte Lebenslust. Hoffen Sie, dass die auch jetzt wiederkommt?
Die zweite Auflage der „Roaring Twenties“, eine schöne Vorstellung. Aber schon die erste war ja kein ungetrübtes Vergnügen und ist eher finster ausgegangen.
Wenn wir schon bei Veränderung sind: Was wird sich Ihrer Meinung nach im Opernfach generell ändern? Das Virus hat Regionalität, mancherorts Provinzialität gebracht, Reisen unmöglich gemacht. Oper hingegen steht für Internationalität. Möglicherweise sperren kleine Bühnen, an denen Sänger ihre Karriere beginnen konnten, zu. Gleichzeitig haben sogar die ganz großen Häuser Probleme. Wie kann das weitergehen?
Sie haben recht, viele Faktoren müssen zusammenspielen, Oper als Industrie ist die totale Antithese zu der Art, wie wir jetzt leben müssen. Aber das kommt wieder. Nur – wie wird sich in der Zwischenzeit unsere Mentalität verändert haben? Unser Zeitalter ist ja das einer falschen, verlogenen, digital vorgespiegelten Nähe. Man kann vor den Komplikationen jeglicher realen Beschäftigung mit einem anderen Menschen jederzeit ins Handy flüchten. Theater brauchen das genaue Gegenteil.
Sie haben, um die Besucher nicht ganz zu entwöhnen, auf Aufführungen für das Fernsehen oder für Streamingportale gesetzt. Die Staatsoper war diesbezüglich sehr aktiv. Wie erfolgreich waren diese Initiativen?
Das ist schon erstaunlich. Wir wollten die Bühne eben keinesfalls einfach stilllegen, allein im Dezember gab es zwei Premieren – eine Balletturaufführung und eine Henze-Premiere. Dazu für Wien wichtige Rollendebüts von Anna Netrebko, Piotr Beczala, Günther Groissböck und anderen. Wir haben das zusammengerechnet, es sind bisher 2,3 Millionen Kontakte – über das Fernsehen und über weltweites Streaming. Allein die „Fledermaus“ zu Silvester hatte nur bei der einen Ausstrahlung 410.000 Seher im ORF. Man könnte sagen: ironischerweise viel mehr Publikum als bei regulärem Spielbetrieb. Und das Feedback ist enthusiastisch.
Klingt nach einem großen Aber.
Ja, man könnte sagen: Alles richtig gemacht, wo liegt das Problem. Aber daran glaube ich keine Sekunde. Man thront da alleine in einer Loge, schaut auf den leeren Saal, freut sich über die Vorstellung, und gleichzeitig liegt eine große Traurigkeit über dem Ganzen. Das Bedürfnis zu teilen ist unglaublich mächtig. Auch wenn man sonst in einem vollen Saal mit seiner Umwelt manchmal durchaus im Clinch liegt, wenn jemand laut ist, unkonzentriert. Aber wenn niemand da ist, wenn man so isoliert ist – da sehnt man sich nur danach, in dieser Energie einer gemeinsamen Begeisterung aufzugehen.
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