ORF-Chefredakteure: "Was manche über den ORF berichten, ist abenteuerlich"
Gabriele Waldner: Ich sehe alles andere als Chaos. Wir haben einen Change-Prozess, der sich in den letzten Monaten stark dynamisiert hat. Wir haben uns selbst, die neuen Ressortleitungen und unsere Projekte erst vor Kurzem vor dem Programmausschuss des Stiftungsrates präsentiert. Wir haben dort eine sehr wohlwollende Stimmung erfahren – leider war Herr Lederer nicht dabei.
Johannes Bruckenberger: Wir sind in einem Höllentempo unterwegs, vor allem, wenn wir uns mit klassischen Verlagshäusern vergleichen, die immer noch an der Verschränkung von Print und Online arbeiten.
Sebastian Prokop: Für die wenigen Monate, die wir im Amt sind, haben wir viel weitergebracht – nicht nur strukturell, sondern auch inhaltlich. Wenn man das sehen will, kann man das erkennen.
Woran erkennen ORF-Konsumenten oder unsere Leser den „Change“, von dem Sie sprechen?
Waldner: Ein Beispiel ist das multimediale Arbeiten. Wir machen Dienstreisen beispielsweise nur mehr, wenn die Reise multimedial verarbeitet werden kann, es also eine Online- und eine Radio- bzw. Radio- und TV-Geschichte wird.
Wie viele Mitarbeiter arbeiten für alle ORF-Kanäle?
Waldner: Ich möchte mich auf keine Zahl festlegen, weil wir gerade für jede und jeden erheben, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten vorhanden sind und wo es Schulungen braucht.
Prokop: Manche Redaktionen haben ja auch bereits vor diesem Prozess multimedial gearbeitet. Die Teletext-Redaktion und die Radio-Nachrichten-Redaktion sind beispielsweise ein Team. Es gibt auch Kolleginnen und Kollegen, die in ihrem angestammten Bereich bleiben werden, weil deren Expertise nicht verloren gehen und niemand zu etwas gezwungen werden soll.
Waldner: Eines ist aber auch klar: Manche Geschichten werden weiterhin für TV, Radio und online separat gemacht werden müssen, damit alle Kanäle gleichzeitig bedient werden können.
Bruckenberger: Von unseren internen Änderungen bekommt das Publikum am besten gar nichts mit, sondern es bekommt letztlich den besten Journalismus des Landes.
Funktioniert das Zusammenspiel zwischen Ihnen? Kritiker sagen, die Struktur muss überarbeitet werden, es gäbe zu viele neue Funktionen.
Bruckenberger: Zwischen uns passt kein Löschblatt.
Neben dem Change-Prozess gibt es, scheint‘s, auch einen Generationenwechsel. Der Verbleib von Hans Bürger oder Claudia Reiterer und der von Sendungen gereichen zur Boulevard-Schlagzeile.
Bruckenberger: Was manche über den ORF berichten, ist abenteuerlich. Dagegen sind die Märchen der Gebrüder Grimm ein faktenbasierter Chronik-Journalismus. Hier werden Dinge skandalisiert und es wird kampagnisiert, weil der ORF als Konkurrent gesehen wird.
Das Argument, dass Expertise und Bekanntheit verloren gehen, das gilt nicht?
Bruckenberger: Hans Bürger ist ein verdienstvoller Mitarbeiter des Hauses. Doch es ist legitim zu sagen, man macht nach 30 Jahren etwas anderes. Wir werden Hans Bürger neu erfinden. Er ist derzeit drei Mal in der Woche am Schirm, früher waren es durchschnittlich zwei Mal. Zudem wird er demnächst als Podcaster aktiv werden.
Waldner: Wir haben in allen multimedialen Ressorts sehr viel Expertise und ich finde es fast schon beleidigend, auf jeden Fall aber unfair, zu behaupten, es gäbe zu wenig Analyse oder Expertise – wenn es etwa in der Innenpolitik auch erfahrene Analytikerinnen wie Claudia Dannhauser oder Helma Poschner gibt. Die Zeit des einen männlichen Welterklärers ist vorbei. Die Welt ist komplexer geworden und es gibt viele Journalistinnen und Journalisten im ORF, die das erklären können.
Neue ORF-Information
Die Neuaufstellung der ORF-Information mit etwa 400 Mitarbeitern im multimedialen Newsroom bedeutet einen Bruch zum Arbeiten bisher. Denn die Kern-Ressorts sind nicht mehr entlang von Mediengattungen, sondern multimedial organisiert. Die ORF-Info produziert über 100 Info-Sendungen und Newsangebote
Gabriele Waldner
Sie führt die multimedialen Fachressorts, in denen die Teams von zuvor Radio, TV und Online und auch deren unterschiedliche Arbeitskulturen zusammengeführt wurden. Die 55-Jährige war vorher interimistisch Chefredakteurin Hörfunk und Ö1-Infochefin
Johannes Bruckenberger
Er leitet die Sendungs- und Plattformteams. Der 56-Jährige kam von der Austria Presse Agentur (APA), wo er lange Chefredakteur, Medienredakteur und Innenpolitik-Chef war. Er war bei den vielen Personalrochaden die einzige Neubesetzung von außen
Sebastian Prokop
Der 50-Jährige verantwortet die Newsteams und damit Breaking News, die Social-Media- und Onlineauftritt sowie Kurzmeldungen des ORF. Er war jahrelang Ö3-Info-Chef und zuletzt Newsdesk-Chef im neuen Newsroom
Hat der ORF genug Analyse und Meinungs-Kommentare?
Waldner: Wir beschränken uns auf Analysen und deren gibt es in allen Kanälen und Formaten genug.
Prokop: Wenn wir das Wort Analyse durch Explainer ersetzen, dann sehen Sie, dass der ORF es als sein Kernangebot ansieht, komplexe Sachverhalte zu erklären - auch auf Social Media und für die junge Zielgruppe wie die ältere. Das Bedürfnis an Sofort-Information ist gestiegen, aber auch das nach Einordnung. Beidem tragen wir Rechnung, beide ergänzen einander.
In letzter Zeit gab es vermehrt Kritik an eingeladenen Experten in den ORF-Sendungen. Nach welchen Kriterien wählen Sie aus?
Bruckenberger: Wir haben eine sehr gute Expertinnen-Datenbank. Expertinnen und Experten sind besonders dann auch gute Gesprächspartner, wenn die Politik sich der Auseinandersetzung, der Diskussion verweigert. Bei der Kritik, von der Sie sprechen, geht es um vier Experten, drei davon völlig unbestritten. In der ZiB2 und ZiB3 waren allein seit Jahresbeginn 2023 knapp 350 Expertinnen und Experten eingeladen. Ich warne vor dem Spiel der Politik, nach den Medien nun Experten anzugreifen.
Wenn sich die Politiker der Diskussion weiter entziehen werden – egal ob „Pressestunde“, „ZiB“ oder „Im Zentrum“ – was heißt das für die EU- und NR-Wahl?
Bruckenberger: Wir planen Elefantenrunden, große Interviews in Form der Sommergespräche und für die Nationalratswahl Zweier-Gespräche jede/r gegen jede/n.
Waldner: Es sieht gut aus. Auch Herbert Kickl hat signalisiert, dabei zu sein.
Wie geht es mit den Diskussionsendungen weiter, wo Neuerungen gewünscht und gefordert werden?
Bruckenberger: Ich mag manche äußerlich an den Weihnachtsmann erinnern. Aber ich erfülle keine Wünsche. Das Super-Wahljahr bindet unsere kreative Energie bis zu einem gewissen Grad. Parallel gibt es eine Evaluierung unserer politischen Diskussionssendungen. Es könnte jedenfalls sein, dass wir ein neues Format im Herbst vorstellen. Das „Europa-Studio“ wird im April enden, Paul Lendvai vom Moderator zum Experten werden. Parallel dazu haben wir neben der „Pressestunde“ jetzt auch „Die Runde“ etabliert und „Im Zentrum“ ein sanftes Redesign verpasst.
Wie trägt der ORF nicht nur der komplexeren Welt, sondern auch den wechselnden Mediengewohnheiten der Menschen Rechnung: Wird es künftig kürzere Sendungen, mehr Podcasts geben?
Prokop: Der Teletext zum Beispiel erfreut sich mit seiner 80er-Jahre DOS-Romantik unglaublicher Beliebtheit auch am Handy via App. Warum? Weil er quadratisch, praktisch, gut ist. Schnörkellos und übersichtlich befriedigt der Teletext das Grundbedürfnis: Steht die Welt noch?
Waldner: Wir wissen aber auch, dass wir uns beispielsweise bei der Gestaltung von klassischen Radio- oder Fernsehbeiträgen weiterentwickeln, neue Erzählarten und -techniken probieren müssen, weil sich die Nutzungs- und Sehgewohnheiten verändert haben.
Bruckenberger: Die digitale Transformation wird nie aufhören, sondern uns immer begleiten für den Rest unseres Lebens. Über allem steht, dass sich der ORF vom Rundfunk der Gesellschaft zur Plattform der Gesellschaft entwickeln wird. Unsere linearen Angebote müssen zu jeder Zeit an jedem Ort abrufbar sein.
Ist das Ende des linearen Zeitalters gekommen, also das programmgebundene Hören und Schauen?
Bruckenberger: Nein, die Quoten im Fernsehen und auch die Entwicklung im Radio sind erfreulich. Im Fernsehen sind wir auf dem gleichen Quoten-Niveau wie in der Zeit vor Corona.
Prokop: Die einen wollen um 19.30 Uhr bei der „ZiB“ die „Lagerfeuersituation“ oder zur vollen Stunde Radionachrichten und danach ihren Alltag ausrichten. Gleichzeitig gibt es eben auch den Wunsch, zeitunabhängig Angebot konsumieren zu können.
Waldner: Man darf nicht unterschätzen, wie identitätsstiftend lineare Programme sind. Das sind Anker, an denen man sich festhält, in einer Welt, die überfordert. Wir sind aber gerüstet für die Zeit, in der die linearen Angebote vielleicht gar nicht mehr nachgefragt sein sollten.
Wie wollen Sie junge Menschen für die ORF-Information gewinnen?
Waldner: Wir werden junge und auch noch unbekannte Kolleginnen und Kollegen vor den Vorhang holen. Für die EU-Wahl beispielsweise wird ein junges Talent, Verena Sophie Maier, eine Reise durch Europa machen und via Radio und TikTok berichten.
Prokop: Das Gute an der Zusammenarbeit aller Ressorts ist, dass wir nun einen Pool an jungen Talenten haben. In der „ZiB3“, den „ZiB Flashes“ und auf Social-Media zeigen viele junge Talente auf. Und diese Talente werden wir sicher nicht verstecken.
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