Kunstrezepte für die Krisenzeit: Kultur ohne Fett, Salz und Zucker
Gott, sind die alle klein hier! Die größten Stars sind jetzt alle geschrumpft auf die Zoll-Maße des Handybildschirms. (Ebendort zoomt man auf der Suche nach Gefühlen in die wichtigsten Kunstwerke hinein. Nur die Bücher sind noch da. Im Hintergrund, als Stilmittel - alles gut bei mir - beim Videotelefonieren. Das Kaffeetischbuch, es ist jetzt Wandtapete.) Damit man sie aber ja hört, die Künstler, zwischen den brüllenden Todeszahlen und welthistorisch daherkommenden Schlagzeilen, machen geschrumpfte Künstler großes Pathos. Die Kunst, sie ist jetzt eine Tochter der Krise.
Andrea Bocelli singt, umflogen von Slow-Motion-Kameras, “Amazing Grace” vor dem Dom von Mailand. Da reibt sich sonst der Opernkritiker die Hände. Oder stellt derartige Pathoskonzentrate durch Nicht-Erwähnung ins musikalische Off.
Nun aber ist das Hoffnungsmusik im richtigen Moment, für viele zwei Minuten Gemeinschaft im sozialen Auseinander, eine emotionale Dienstleistung, wie sie auch nur die Kultur vollbringen kann, eine Schutzmaske gegen die Unsicherheit.
Auch bei Andreas Gabaliers Krisensong griff das sonst bereitliegende Werkzeug nicht: Der ist nämlich unfallfreier und gelungener Jausenspeck für die heimische Seelenlandschaft.
In der Not isst der Teufel wasweißichwas, der Mensch gehamsterte Nudeln und Reis, und der Musikkonsument das emotionale Äquivalent von Fett, Salz und Zucker. Derart unmittelbar Nährreiches, fest Eingebuchtes und eng Begrenztes bringt Trost, wo sonst alles wackelt.
Das ist auch gut so, die Ernährungsberater waren mal eine Zeit lang schön still, und auch der Kulturjournalismus wies die letzten Wochen lieber auf Hörenswertes hin als mal zu sagen: Nee, lasst uns doch wieder was Gesünderes aus der Speis’ holen. Krisentipps statt Kritik, Gemeinsamkeit statt Sternderlbewertung. Nicht zuletzt auch, weil vieles von dem Schönen und Lustigen, Wohlwollenden und Gutgemeinten, das die sturzgeborene Onlinekulturwelt hervorbrachte, nicht nur freundliches Service Kulturschaffender war, sondern auch der Ruf nach einem Schwimmreifen, wenn nicht gar ein letztes Winken: Viele, viele Künstler stehen vor dem beruflichen Nichts, und ein gut gemachter Gratisauftritt im Internet ändert daran gar nichts. Die Hände, die hier Richtung Publikum ausgestreckt werden, bitten auch, diese rettend zu ergreifen. Da zögert man, zurecht, nachzutreten.
Aber der Baumarkt sperrt morgen wieder auf, und auch das kulturjournalistische Werkzeug glänzt schon wieder verlockend. Kultur lebt eigentlich nur in der Auseinandersetzung. Wann aber ist der Zeitpunkt, Hammer und Säge wieder hervorzuholen? Oder muss man das scharfe Autorenzeug gar liegen lassen bis Jahresende, weil es eh keine Veranstaltungen geben wird?
Oder nützt man das Ende der Fastenzeit, um vielleicht in der Kultur auf leere Kalorien zu verzichten?
Vielleicht kann man zumindest mal die Wasserwaage hervorholen – um deren ästhetische Schieflage ein bisschen auszugleichen. Ein Vorschlag: Zumindest einen Tag in der Woche der hochkalorischen Krisenkunst freiwillig ein wenig karge Kost entgegenhalten. Es ist jetzt nämlich – auch! - der richtige Zeitpunkt für die kleine Form und die kalte Emotion.
Krisenmusik des 20. Jahrhunderts
Warum also nicht genau jetzt mal der sogenannten Neuen Musik eine Chance geben, der Musik des 20. und 21. Jahrhundert also, die so steil, schroff, abstrakt daherkommt? Oder wieder einen Gedichtband aus der Videokonferenz-Wandtapete herausholen?
Es findet sich in der Neuen Musik ohnehin viel Krisenmusik, nur im Gegenteiligen: Rund um den Niedergang der alten Weltordnung (Erster Weltkrieg) und nach der fundamentalen Erschütterung der Unmenschlichkeit des Holocaust wurde Musik geboren, die nicht die (entwerteten) Emotionen hochmassiert, sondern von Haltlosigkeit und Geworfenheit berichtet, von der unüberwindbaren Individualität des Empfindens. Also gerade nicht von geteiltem Gefühlsbad, sondern von einer Abgrenzung gegen ein Früher, gegen falsche Gemeinsamkeit, für eine Neuaufstellung von Werten. Passt doch auch ganz gut, oder?
Später dann, in den vergangenen Jahrzehnten, gab es komplexe, neuartige, mutige, oftmals auch sehr witzige und geistreiche Erforschungen dessen, was Musik sein kann.
Musikalische Brokkoli
Krisenmusik? Derartiges braucht man jetzt nicht auch noch? Naja. Auch im Liebesunglück hilft es, den schmerzlichsten zu findenden Love Song auf Repeat zu hören. Gerade die Neue Musik als ästhetisches Projekt war wohl in vielen Jahrzehnten nicht so passend wie jetzt.
Ja, das ist für neue Hörer alles gewöhnungsbedürftig, es sind Hör-Hürden, die im regulären Leben nicht übersprungen werden müssen. Es sind aber auch Brokkoli, korrekt zubereitet – ins Backrohr, nicht kochen!!! - fantastisch. Neue Musik ist ein erlernter Geschmack. Und eines der größten künstlerischen Abenteuer, auf das man sich einlassen kann. Trauen Sie sich!
Ein paar Hörtipps
Etwas Neues: György Kurtags “Fin de Partie”
Mit HK Gruber liegt man nie falsch.
Entrückte Schönheit, schwere Thematik, für Neue-Musik-Verhältnisse jedoch geradezu ein Publikumshit: Gerard Griseys 14 Gesänge, um die Schwelle zu überwinden (und ja, gemeint ist der Tod)
Das Kriegsrequiem von Benjamin Britten
Arnold Schönbergs “Überlebender aus Warschau”
George Benjamins Oper “Written on Skin”
Es gibt so viel mehr!
Stoff aus dem Bücherregal
Ähnliches gilt für die gerne verschenkten, aber kaum gelesenen zeitgenössischen Gedichtbändchen. Die kann man ab morgen wieder kaufen, oder man schaut ins Bücherregal nach Werken, die man geschenkt bekommen hat, aber vielleicht noch nie gelesen. Wer da Jandl, mayröcker findet, hat Glück gehabt. Es gibt vieles davor und danach. Dabei verfolgt man in den besten von ihnen die kleinteilige, oftmals fast sprach-mönchische Suche nach einem gelungenen Wort, einem Bild, das man so noch nie vor Augen hatte. Dieses Bild kann man dann der Welt, die eh so ist, wie sie ist, entgegenstellen. Und über sie ein bisschen mehr wissen als zuvor.
Wenn man bereit ist, nach langer Heimquarantäne das Pathos abzuduschen, kann man sich mit diesen künstlerischen Rüstzeugen vielleicht die letzten Reste wegwischen. Und dann: Gerüstet wieder hinausgehen.
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