Kunst stellt den Nöten des Moments Ansätze entgegen, in anderen Zeiträumen zu denken.
12.04.20, 05:00
Die älteste Palme von Los Angeles hat den Wandel der kalifornischen Metropole seit den Tagen des Goldrausches erlebt. Nun aber ist das Ende ihrer natürlichen Lebensdauer bald erreicht.
Was bleiben wird, ist eine Box mit künstlerischen Beiträgen, die der in Wien lebende Künstler Christian Kosmas Mayer nahe des Baums vergrub, als er 2015 als Schindler-Stipendiat des MAK in der Stadt weilte. Die Box enthält auch vakuumierte Samen der Palme, die eine „Auferstehung“ ermöglichen könnten. Im Jahr 2115 soll die Kiste ausgegraben werden.
„Ich verhehle nicht meine Sorge darüber, wie Ihre Zeit wohl auf unsere Gegenwart reagieren wird“, schreibt Mayer in einem an die Leserschaft der Zukunft gerichteten Vorwort in einem Künstlerbuch über das Projekt, das demnächst erscheint (Mark Pezinger Verlag). Als Mayer den Text verfasste, beherrschte schon die Corona-Krise, der Klimawandel und der weltweit grassierende Populismus sein Denken. „Vor fünf Jahren hätte ich mir das alles nicht vorstellen können“, sagt der Künstler im KURIER-Gespräch.
Mayer hat das Motiv von Zeitkapseln in seinem Werk öfters aufgegriffen. Die Idee, etwas aus dem Lauf der Dinge herauszunehmen, um es in einer gedachten Zukunft wieder zu aktivieren, sei „eine gute Übung zu reflektieren, was mein Leben auf einer materiellen Ebene ausmacht“, sagt er. Da Zeitkapseln Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges nebeneinanderstellen stellen, bieten sie auch Gelegenheit, über verschiedene Zeitvorstellungen nachzudenken: Was ist Dauer, was hat Bestand? Entwickeln sich Dinge linear oder kehren sie immer wieder?
Eine religiös gestimmte Kunst griff hier lange auf die Motivik von Tod und Auferstehung zurück. Mayer sieht seine Ausgangspunkte eher in einer Denkweise, die sich in den 1960er Jahren ihren Weg bahnte: Immer wieder suchten hier Kunstschaffende den Takt der westlichen Warenwelt mit Prozessen der Natur und des Kosmos zu konfrontieren, um ein anderes Verständnis von Zeit und Raum zu schaffen.
Messlatten für das Unermessliche
Der Künstler Robert Smithson etwa grub die geometrischen Formen der Minimal Art in Wüsten oder Salzseen, um sie einem Verwitterungsprozess auszusetzen, und sah das Gehirn selbst als „einen verwitternden Felsen, von dem Ideen und Ideale triefen“. Sein Gesinnungsgenosse Walter de Maria ließ bei der Documenta in Kassel 1977 einen Messingstab in der Länge eines Kilometers senkrecht in die Erde treiben: Man sieht bis heute nur ein rundes Metallplättchen in der Mitte des Friedrichsplatzes, weiß aber, dass da noch mehr ist – und ist angehalten, über die Beschränkungen menschlicher Mühen zu meditieren.
„In diesem ständigen Ins-Verhältnis-Bringen einer organisierten, technisierten Welt mit einer anderen Zeitlichkeit stecken wir heute noch immer drin“, sagt Christian Kosmas Mayer. „Das merkt man jetzt bei Corona oder der Klimakatastrophe, wo sich eine andere Zeitlichkeit und Kraft entgegenstellt und man merkt: Da ist dann doch keine Kontrolle, und das, was man sich aufgebaut hat, hilft nicht wirklich.“
Nicht nur die Religion, auch die Kunst stellt der Kurzsichtigkeit des Moments übergeordnete Langfristigkeiten entgegen. „Jedes Kunstwerk ist ein Stück eingefangenen Geschehens oder eine Emanation der Vergangenheit“, schrieb der US-Kunsthistoriker George Kubler dazu in seinem Buch „Die Form der Zeit“ (1962), das sich als eine große Inspirationsquelle für die Künstler der 1960er und 1970er erweisen sollte.
Für Kubler war jede Formfindung eine Aktualisierung bereits vorhandener Ideen, die überzeitlich Bestand haben – lebende Künstler können daher mit jenen der Vergangenheit kommunizieren. Das Wiener KHM nahm Kublers Ideen 2018 zum Ausgangspunkt einer Ausstellung, die etwa Werke von Rubens mit solchen Maria Lassnigs paarte.
Auch wenn in dieser Perspektive jedes Kunstwerk eine ArtZeitkapsel darstellt, so wurde die verschlossene Box mit Zivilisationszeugnissen doch auch als eigenes künstlerisches Format entdeckt.
Das bekannteste Beispiel sind jene Pappschachteln, die der Pop-Art-Star Andy Warhol von 1974 bis zu seinem Tod 1987 mit allerlei Dingen aus seinem Atelieralltag befüllte: 612 Boxen waren es am Ende. Der Künstler, der einmal jedem Menschen 15 Minuten Ruhm prophezeite, spielte da wohl bewusst mit der Idee des Nachruhms: „Sich in der Gegenwart der Dinge entledigen und sie am Ende als Garant einer wahrhaften Dauer wiederfinden, ist der katholische Gegenentwurf innerhalb eines Werks, das sich bewusst im Moment der Gegenwart erschöpft“, schrieb die FAZ zu einer Ausstellung von Box-Inhalten.
Archäologie im Eigenbau
Christian Kosmas Mayer weist jedoch darauf hin, dass die Zeitkapsel, die schon heute eine Archäologie von morgen konstruiert, in der US-amerikanischen Popkultur auf spezielle Weise verankert ist. In US-Zeitungsarchiven fand der Künstler zahlreiche Fotos von Events, auf denen Kapseln ein- oder ausgegraben wurden (siehe Bild unten). Die Spur reicht von Weltausstellungen und NASA-Flügen bis zu privaten Archiven und den „Zurück in die Zukunft“-Filmen.
„In den USA hat fast jeder einmal eine Zeitkapsel gemacht“, sagt Mayer. „Das kann damit zu tun haben, dass sich USA als führende Nation des 20. Jahrhunderts verstand und die Menschen dachten: Meine Gegenwart ist so bedeutsam und positiv, dass sie für die Nachwelt erhalten werden muss. Vielleicht kompensierte man so auch das Fehlen archäologischer Funde.“
In jeder Zeitkapsel steckt also stets das Selbstbild der Vergrabenden und ihre Perspektive auf die Zukunft. Die Ausgangslage sei heute komplizierter, befindet Künstler Mayer: „Es ist heute viel mehr Sorge drin – im Gegensatz zu dem ungetrübten Optimismus, der früher hinter solchen Aktionen stand.“
Nichtsdestotrotz wird das, was wir heute für wichtig erachten und aufbewahren, einmal Geschichten erzählen. Und wenn sich in den Vorläufern aus Kunst, Religion oder Wissenschaft etwas Gemeinsames finden lässt, dann ist es die Botschaft, dass es jedes Mal noch eine Zukunft und einen Neuanfang gibt.
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