Corona und die Tiefe der Tage: Es ist so unschön still hier

Corona und die Tiefe der Tage: Es ist so unschön still hier
Warum es sich lohnt, bei Doderer über Zeitenwenden nachzulesen. Wer zurückbleibt. Und was diesmal ganz anders ist.

Heimito von Doderer wickelte seinen wunderbaren Roman “Die Strudlhofstiege” um ein Gedankenbild: Seine Figuren sind geleitet und bestimmt durch die “Tiefe der Jahre”, durch die besondere Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg, die sich ins Persönliche übersetzt. An “Jahre” wollen wir hier gar nicht denken. Aber es gibt derzeit eine eigentümliche Tiefe der Tage, die das Private verändert und manchen öffentlichen Unsinn radikal entwertet. Etwas Bemerkenswertes ist passiert: Das Virus hat auch das Gift attackiert, das die übersatte gesellschaftliche Debatte verseucht hatte.

Nach der Monarchie

Verwundert blinzelnd, irren in der “Strudlhofstiege” die ehemaligen k.u.k.-Menschen durch eine neue Welt, ausgespuckt nach dem großen Bruch des Kriegs. Die Werkzeuge, mit denen sie zuvor die Welt bearbeitet hatten, passen nicht mehr. Die Geschichte hat sich weitergedreht, die Menschen müssen diese erst wieder einholen. Doderers Wiener Umbruchserzählung ist wahrlich nicht das einzige derartige Buch. Aber die “Strudlhofstiege” zeigt exemplarisch, was ein historischer Bruch ist. Und damit auch: was nicht.

Corona und die Tiefe der Tage: Es ist so unschön still hier

Vor Corona

So hatte man zuletzt, vor Corona, auch das Gefühl einer Zeitenwende herbeigeschrien, in der alles von historischer Wichtigkeit schien. Und dementsprechend giftig durchgestritten wurde: Jeder Flüchtling, jede demokratische Differenz, jede Zukunftsoption, jeder Nadelstich, den man dem anderen zufügen konnte. Damit ist jetzt Mal Schluss. Plötzlich ist wirklich ein “historischer Moment”, wenn auch ein kurzer und eng begrenzter, und damit geht eine gewisse Ernüchterung auch in der Debatte einher. Mancher auf Aggro eingebuchte Blick wurde neu fokussiert. Und man darf deshalb zwischen Trauer und Furcht auch einen kleinen emotionalen Anteil für Erleichterung abzwicken.

Aus der Populismus-Ecke

Es ist derzeit aber auch wirklich schwierig, sich in den populistischen Ecken wohlzufühlen, in denen so viele es sich eingerichtet hatten. Die von diesen Rändern zuletzt freudig in Richtung Mitte ausgerufenen Triumphe entpuppen sich als magere Scheinsiege, wenn nicht gar als der Schaden, der sie eigentlich waren. Manchen, den man gerade noch gerne vertrieben hätte, braucht man nun, den Erntehelfer, den Pfleger, den Staat, die Politik.

Und wenn das gebannte Schauen auf selbst die kompliziertesten Zahlen und Kurven keine Antworten liefert, ja diese Antworten eigentlich immer nur weiter wegrücken, dann fehlt plötzlich für etwas anderes jede Geduld: Für die Kasperliade derer nämlich, die für alles angeblich einfache Lösungen haben wollen.

Unterschiede? Pflegen!

Das ist hilfreich, mal sehen, ob es auch von Dauer ist. Manche Indizien sprechen dagegen: In der Kultur und vor allem im Medienkonsum etwa ziehen wir uns aus den wertvollen Wagnissen zurück in eine Gemeinsamkeit, die das letzte Mal vor Jahrzehnten echt war. Gerade hier ist es hingegen ein Vorteil, wenn man auf die Unterschiede nicht vergisst, diese pflegt und akzeptiert. Ein verordneter Zusammenhalt bedient nur Kunstformen und Medien, die in leichteren Zeiten mit diesem Zusammenhalt Schindluder getrieben haben.

Andere Rückzüge tun aber, in Maßen, gut. Wer würde wollen, dass die Politik je wieder so wird, wie sie war? Man arbeitet derzeit gemeinsam – die Opposition und ihren wichtigen Widerspruch eingeschlossen - an einer Sache, die den Menschen nützt. Wann gab es das das letzte Mal? Wenn eines aus dieser Zeit zu lernen ist, dann dass das widerliche Partei-Hick-Hack nie wieder als Politik durchgehen darf.

Wofür es keinen Platz mehr gibt

Manchmal bricht es auch jetzt in einer Art Muskelerinnerung durch: So lange hat man den politischen Zank trainiert, dass er zum Reflex wurde. Das ist bemitleidenswert, auf der Siegerseite und auf der Seite, die sich der politischen Stunde fügen muss. So agieren in der “Strudlhofstiege” die Zurückgelassenen, die Würdenträger und Entscheidungstreffer der Monarchie, für die es keinen Platz mehr gibt.

Keine Angst, das wird sich nicht ändern

Aber keine Angst: So radikal wird es diesmal nicht sein. Man spürt es schon, das große Zurückschnappen in die Zeit vor dem Bruch.

Wie überhaupt das schon erwähnte Eigentümliche an diesen Tagen ist, dass die Tiefe bereits vermessen ist. In der “Strudlhofstiege” sehen wir einer Welt zu, die nach dem Zusammenbruch radikal anders neu entsteht. Es zeichnet sich jetzt schon ab, dass das nach dieser Krise nicht so sein wird. Denn die allgemeine Sehnsucht ist, dass möglichst rasch wieder Normalität einkehrt. Es wird auch, trotz aller Debattensehnsucht über Globalisierung und Kapitalismus, kein wesentlicher Grund überbleiben, dass sich im Prinzip etwas ändert. Das Virus ist ein Feind von außen, der Sieg gegen ihn heißt Rückkehr zum Normalbetrieb, nicht Revolution.

Luft rausgelassen

Zum Glück ist dementsprechend auch die Weltkriegsrhetorik vom “reinigenden Gewitter”, vom historischen Moment, der einer großen Veränderung dienen soll, nur ein Minderheitenprogramm jener, die eh schon dafür oder zumindest davon leben. Es tut gut, dass aus der Scheinwichtigkeit der letzten Jahre die Luft ausgelassen wurde. Man tut aber auch gut daran, diese Wichtigkeit nun nicht ungefiltert in die Coronakrise hineinzublasen. Andernfalls droht erneut ein gefährlicher Perspektivverlust: Aufgeladen von der eigenen Wichtigkeit im Geschichtsspiel, die man sonst nicht kennt, droht die Selbstüberhöhung der politischen Dienstleister, nicht nur in Ungarn.

Wir leben im Roman unseres Lebens

Ins Private aber wird sich die Tiefe der Tage unweigerlich durchschlagen. So viele haben Zukunftssorgen. Gegen die wird man in wenigen Wochen mit einer Art Nachkriegsfleiß anarbeiten. Aber noch mehr passiert, man kann es nicht sehen, aber förmlich spüren: Diese Vielzahl an privaten Ereignissen, in jede Richtung, die diese Tage wie einen Roman formen. Liebhaber, die einander nicht sehen können. Menschen, die soeben zusammengezogen sind, und das als Fehler erkannt haben. Getrennte, die wieder zusammen finden. Ferne Abschiede, zu große Nähe. Es spult sich da draußen und hier drinnen gerade der Roman unseres Lebens ab. Er wird der “Strudlhofstiege” nicht ganz unähnlich sein.

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