Geiger Nigel Kennedy im Interview: Bach, Polen und der „Brex-Shit“

Geiger Nigel Kennedy im Interview: Bach, Polen und der „Brex-Shit“
Als Klassik-Punk wurde er berühmt. Am 27. November kommt er mit Gershwin und Bach nach Wien.

Nigel Kennedy ist immer noch unverkennbar: Die Strubbelhaare des einstigen Geigen-Punks und Verkaufsrekordhalters - seine Vivaldi-Aufnahme setzte mehr als zwei Millionen Tonträger ab - stehen derzeit auf Plakaten in Wien zu Berge – denn am 27. November tritt Kennedy im Konzerthaus auf. Der KURIER erreichte Kennedy für ein Interview zuvor telefonisch in London – wo es oft kalt ist, aber „derzeit wegen des politischen Klimas noch kälter", wie Kennedy sagt.

KURIER: Aber Gershwins Musik, die Sie bei Ihren Konzerten spielen, wärmt zumindest das Herz.

Nigel Kennedy: Die Melodien haben so viel Pathos und Charakter. So viele Liebeslieder hört man heute nicht mehr. Heute will jeder nur tough aussehen.

Und die Liebe findet man in der Dating-App. Gibt es deswegen keine Liebeslieder mehr?

Das ist für jemanden wie mich ein wenig erschreckend. Ich verwende Computer gar nicht. Ich höre immer, dass Menschen auf Twitter und Facebook 5000 Freunde haben. Wie kann das sein? Man kann vielleicht zehn Freunde haben.

Wenn man Glück hat.

Genau. Wie hat man Zeit für all diese Menschen? Vielleicht hat diese neue Art der Kommunikation die Romantik abgetötet.

Das Konzert beginnt mit Bach?

Ich spiele jeden Morgen nach dem Aufstehen Bach. So, wie andere Yoga machen.

Sie spielen bei den Konzerten auch ein eigenes Werk.

Ja, es geht darin um die verlorene jüdische Gemeinde in Polen. Das Werk basiert auf einem Buch des „Yentl“-Autors Isaac Bashevis Singer, ein wundervoller Erzähler. Ich habe Bilder der Gemeinden in Warschau und Lodz gesehen. Da war Farbe und Leben auf der Straße, ein großes Geschenk, das Polen heute fehlt.

Apropos Polen: Leben Sie immer noch dort?

Ja, ich verbringe immer noch viel Zeit dort. Aber jetzt muss ich mir überlegen, wo ich stattdessen hinziehen kann. Wegen dieses „Brex-Shit“. Die Politik in Polen ist nicht viel besser. Aber es wird zumindest weiter Teil von Europa sein, während es da bei Großbritannien große Zweifel gibt.

Glauben Sie, dass es ein weiteres Referendum geben wird?

Ich hoffe es. Es gingen kürzlich 100.000 Menschen dafür auf die Straße. Jetzt wissen wir, was die Konsequenzen sind. Beim ersten Referendum wusste das niemand. Es ist die schlechteste Zeit, über Unabhängigkeit nachzudenken, weil wir nichts erzeugen können. Wir haben keine Auto-Industrie mehr, keine Kohle und keinen Stahl, weil Thatcher das alles umgebracht hat. Ich mache mir Sorgen: Denn ich verlasse jetzt London bis nach dem 22. März, wenn das umgesetzt werden soll.

Ihre letzten Stunden im Pre-Brexit-Großbritannien.

Das ist eine sehr traurige Situation. Die Briten waren zu leichtfertig und fehlinformiert.

Aber fühlen Sie sich in Polen wirklich wohler?

Es gibt dort Missbrauch der Demokratie. Und es schleichen sich Antisemitismus, Rassismus, Homophobie in die Politik ein. Es ist alles andere als gesund, aber immer noch Teil Europas.

Wird sich das ändern?

Es gibt zu viele intelligente und gute Menschen in Polen, als dass das für immer weitergeht. Aber es gibt auch viele großartige Menschen in Amerika – und die haben Donald Trump. Es scheint überall auf der Welt der letzte Trend zu sein, dass die Menschen nationalistisch und chauvinistisch werden.

Hat die auch die Kultur versagt? Die hat auch nichts besser gemacht.

Ich glaube, die Menschen haben immer zu viel von der Kunst erwartet. Viele Menschen, die Vorurteile entwickeln, haben von vornherein keinen Zugang zu Kultur. Das sind Menschen mit geringem Einkommen und ohne Privilegien. Ich habe selbst nie das überschätzt, was ich tue. Die Menschen putzen ihre Wohnung, während sie meine CD hören. Und nach den Konzerten gehen sie alle zurück in die Realität ihres Lebens. Künstler überschätzen ihren eigenen Wert. Wir sind Teil der Bevölkerung, wie alle anderen auch. Und wir haben das Glück, dass wir einen Job machen, den wir lieben. Aber wir haben keinen bleibenden Effekt. Insofern war es eine wundervolle Sache, was Banksy machte.

Sein Kunstwerk nach der Auktion zu shreddern.

Warum sollte jemand anderes von seiner Kunst profitieren? Ich fand das großartig. Das war nicht nur ein Bild, sondern eine Performance. Und alle haben es gesehen. Er dringt zu den Menschen durch. Aber die sogenannte Hochkultur hat einen zu komplizierten Ansatz, was Schwellenabbau betrifft. Wenn mehr Menschen Zugang hätten, wäre es großartig. Da haben die Menschen in Österreich Glück.

Was machen Sie nach der Tournee?

Ich sammle Ideen für mein erstes Violinkonzert.Bis jetzt habe ich nur Songs geschrieben, kurze Formen. Das ist eine große Aufgabe. Nur: Zuletzt ging ich zum Komponieren immer in die polnischen Berge. Keine Ahnung, wo ich künftig hin soll.

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