Franz Welser-Möst: "Die Marke Netrebko ist ziemlich kaputt"
Er ist nicht nur Österreichs erfolgreichster Dirigent, sondern auch ein hochpolitischer Kopf: Franz Welser-Möst im großen Interview mit dem KURIER am Sonntag. Er macht sich Sorgen um die Demokratie und sieht die Gesellschaft auf dem Weg zur „Individual-Anarchie“.
KURIER: Sie haben vor einiger Zeit gesagt, dass Sie mit Künstlerinnen wie Anna Netrebko nicht mehr arbeiten wollen, damals noch aus ganz anderen Gründen. Mittlerweile, durch Russlands Krieg gegen die Ukraine, wurde sie außer in Mailand von den wesentlichen Institutionen ausgeladen. Ist diese Entscheidung richtig?
Franz Welser-Möst: Das muss man auseinander halten. Ich habe das vor einigen Monaten gesagt, weil ich es ablehne, wenn jemand wie sie, aber auch Valery Gergiev, die Kunst so behandelt, dass man zum Beispiel nicht zu Proben erscheint. Das ist respektlos gegenüber Kollegen, aber auch respektlos gegenüber dem Publikum und hat mit fehlendem Berufsethos zu tun. Nun geht es darum, dass die beiden die rote Linie überschritten haben, indem sie einen Kriegstreiber unterstützen oder sich nicht distanzieren. Wie man sich bettet, so liegt man.
Also ist die logische Konsequenz, sie nicht auftreten zu lassen?
Wir leben in einer Zeit, in der es kaum Konsequenzen gibt. Seit Jahren herrscht das Prinzip „anything goes“. Aber im Krieg gibt es halt einfach unglaubliche Konsequenzen. Wenn unschuldige Kinder ermordet, wenn Millionen Menschen zur Flucht gezwungen werden, kann man das nicht wegargumentieren.
Hätte eine Distanzierung von Putin gereicht, nachdem gerade Netrebko und Gergiev jahrelang eng mit ihm verbunden waren?
Niemand ist ohne Fehler. Aber man muss dann auch die Größe haben zu sagen: Da bin ich falsch gelegen. Das hätte hier passieren müssen. Das hat eben erst Salzburgs Intendant Markus Hinterhäuser mit Gazprom als möglichem Sponsor gemacht. Andererseits gibt es viele russische Künstler, die es sich nicht bequem gemacht haben im System Putin. Die rausgeworfen werden, nur weil sie einen russischen Pass haben. Das geht auch nicht.
Wie haben Sie, zynisch gesagt, das Wettrennen mancher Intendanten empfunden, wer Netrebko am schnellsten rauswirft?
Das ist die Kehrseite der Medaille, wenn dann plötzlichen Moralisten aus allen Löchern kommen, die davor sehr gern auf die Cashcow gesetzt haben. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass der Krieg so rasch vorbei ist und dann alles wieder reibungslos vonstatten geht.
Heißt das, konsequent weitergedacht: Die Karriere von Netrebko ist zu Ende?
Netrebko ist vergangenes Jahr 50 geworden. Und man hat schon gewisse Abnützungserscheinungen in ihrer Stimme gehört. Das ist der Lauf der Natur. Wenn sie jetzt drei Jahre nicht singt? Es gibt späte Comebacks, aber ich glaube nicht daran. Sie hat keine Agentur mehr, auch keine Plattenfirma. Und es geht ja nicht einfach um die Sängerin Netrebko, sondern um die Marke. Und die ist ziemlich kaputt.
Wird sie dem Klassikbetrieb fehlen?
Ich würde mir wünschen, dass wir in diesem Beruf wieder zu mehr Ernsthaftigkeit zurückkommen. Zu Beginn der Pandemie habe ich von vielen Leuten gehört: Jetzt werden sich die Dinge ändern, bald gibt es das nicht mehr, dass Menschen einfach nicht zu Proben kommen. Aber nichts ist passiert. Sobald die Häuser wieder geöffnet hatten, war alles wie vorher. Jetzt, mit diesem Krieg, wird man sehen, ob sich wirklich etwas zum Guten ändert. Künstlerinnen und Künstler, die nur das Monetäre gesehen haben, haben dieser Kunstform jedenfalls enorm geschadet.
In Salzburg hat sich Intendant Hinterhäuser von Netrebko und Gazprom distanziert, während Nikolaus Bachler, Chef der Osterfestspiele, Netrebko willkommen heißen würde, wie er im KURIER sagte. Wie sehen Sie diese Uneinigkeit innerhalb einer Stadt?
Da vermisse ich eine klare Stellungnahme der Politik in den Aufsichtsgremien. Bei Krieg gibt es nur ein Entweder/Oder, da gibt es nichts dazwischen. Die Salzburger Festspiele haben auch zum Dirigenten Teodor Currentzis klargestellt: Es muss sich deklarieren, damit er dort auftreten kann.
Viele Künstler argumentieren, sie seien nicht politisch.
Kunst ist allein schon deshalb politisch, weil sie ein Teil des europäischen demokratischen Erbes ist. Die Salzburger Festspiele wurden als Friedensprojekt gegründet. Wer wie Gergiev die Annexion der Krim gutheißt, darf in einem solchen Friedensprojekt keinen Platz haben. Das System Putin hat offenbar versucht, den Westen zu infiltrieren. Dagegen muss man auftreten. Aber noch einmal: Man sollte kein Pauschalurteil über alle Russen fällen. Da muss man differenzieren. Aber Differenzierung ist derzeit fast nicht mehr möglich.
Welche Lehren jenseits der Kunst kann man aus diesem Krieg ziehen?
Ich hoffe, dass wir die richtigen für die Demokratie in Europa ziehen. Wir haben uns als Demokratie von der Demokratie wegbewegt. Wir sind, das hat man auch bei den Demonstrationen gesehen, in Richtung Individual-Anarchie gegangen. Das wäre jetzt auch die Chance, das österreichische Bildungssystem nicht nur zu reformieren, sondern neu zu erfinden. Und der Ukraine-Krieg ist auch die einmalige Gelegenheit, das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern neu zu definieren.
Inwiefern?
Ich bin da einer Meinung mit Richard David Precht, der zuletzt geschrieben hat: Es muss auch Pflichten geben. Die einzige Pflicht, die wir im Moment haben, ist die, Steuern zu zahlen. Wir haben uns über Jahrzehnte hin so entwickelt, dass der Bürger einfach nur Ansprüche stellt, Anrechte formuliert. Und der Staat hat zu liefern. Schon John F. Kennedy hat gesagt: Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst. Im Moment leben wir in einer großen Disharmonie. Ich habe zum Beispiel an einem dieser Samstage hautnah einen Demonstrationszug erlebt. Und wenn man da hört, wie „Frieden, Freiheit, wir sind das Volk“ gegrölt wird, bekommt man es mit der Angst zu tun. Wir leben nicht mehr in einer Zeit der Kommunikation, sondern der Ex-Kommunikation. Wir schließen uns gegenseitig aus. Damit geht die Demokratie zugrunde.
Ist es nicht auch bezeichnend, dass viele Impfgegner nahtlos zu Putin-Verstehern wurden?
Ja, da wird plötzlich statt mit Judensternen mit russischen Fahnen demonstriert. Das ist auch ein Ergebnis jahrzehntelanger bildungsfeindlicher Politik.
Stehen in der Ukraine unsere Werte generell auf dem Prüfstand?
Absolut. Entweder finden wir die Kraft, uns auf diese Werte zu besinnen, oder wir gehen unter.
Es gibt im Moment in Österreich wieder eine Art Willkommenskultur. Bleibt das so?
Die Geschichte lehrt uns, dass das leider nicht so bleibt, auch wenn das wünschenswert wäre.
Wie empfinden Sie die Situation in Österreichs Regierung nach den Kanzlerwechseln? Hat sich das jetzt beruhigt?
Ja, ich habe diesen Eindruck. Und das wäre eine Chance, grundlegende Dinge in diesem Land zu ändern. Ich habe auch nicht die endgültigen Lösungen. Aber wie viele Österreich-Konvente haben wir schon erlebt? Jetzt müssen wir uns wirklich den großen Fragen stellen.
Sie sind als Chef des Cleveland Orchestra oft in den USA. Dort scheint es der Klassik besonders schlecht zu gehen.
Das stimmt zum Teil. Unser Orchester ist zum Glück gut durch die Pandemie gekommen. Aber bei der Metropolitan Opera in New York etwa kracht es gewaltig im Gebälk. Krisen haben es an sich, dass Fehler wie durch ein Brennglas vergrößert werden.
Muss man sich im Moment um das Genre grundsätzlich Sorgen machen?
Ja. Aber nicht nur um das Genre der Klassik. Es geht auch generell um die westliche Kultur und ihre Orientierung.
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