"Da bricht mir das Herz": Maria Happel über Reichenau und das Reinhardt-Seminar
Am Sonntag enden die Festspiele Reichenau mit zwei Vorstellungen am Nachmittag. Für „Tartuffe“ gibt es noch Karten, insgesamt ist Maria Happel aber erleichtert: Man kommt auf rund 30.000 verkaufte Karten und eine durchschnittliche Auslastung von gut 90 Prozent bei den Hauptproduktionen.
Zuletzt wurde das „hessische Häschen“ – so die im Spessart geborene Schauspielerin über sich – arg gebeutelt: Nach Vorwürfen der Studierenden legte die Kammerschauspielerin, 1991 vom damaligen Burgtheaterdirektor Claus Peymann nach Wien geholt, die Leitung des Max-Reinhardt-Seminars nieder. Und sie zieht noch weitere Konsequenzen, wie sie im Interview mit dem KURIER am Sonntag erklärt. In Reichenau aber wird sie frohen Mutes weitermachen.
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KURIER: Haben Sie eigentlich Kontakt zu den Loidolts, den Gründern der Festspiele? Maria Happel: Als klar war, dass ich die Intendanz übernehme, habe ich einen Antrittsbesuch gemacht. Ich habe ja früher viel bei ihnen gearbeitet. Sie haben sich gefreut, dass ich bestellt wurde. Sagen wir mal so.
Gibt es eine Zusammenarbeit? Oder beschränkt sich diese darauf, dass Renate Loidolt das Archiv betreut?
Sie beschränkt sich darauf. Das Ehepaar Loidolt besucht die Generalproben, zu den Premieren möchte es nicht kommen. Ab und zu schicken sie mir ein Foto aus dem Archiv, und wir wünschen uns jeweils alles Gute zum Geburtstag. Das ist es.
Im vergangenen Sommer haben Sie eine Idee der Loidolts – „Des Teufels General“ – aufgegriffen. Die Dramatisierung hätte ja im Corona-Jahr 2020 Premiere haben sollen. Und Sie sollten „Arme reiche Erbin“ inszenieren.
Ja, die Bühnenfassung des Romans „Washington Square“ von Henry James. Ist eine tolle Geschichte, wurde 1949 unter dem Titel „Die Erbin“ verfilmt – mit Olivia de Havilland, die von Max Reinhardt entdeckt worden war.
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Eine Riege von Schauspielern hat, weil das Programm ohne Not abgesagt wurde, Honorare eingeklagt. Haben Sie sich angeschlossen?
Nein.
Die in Liquidation befindliche Festspiele Produktions Ges.m.b.H. ist zahlungsunfähig. Die Künstler befürchten daher, kein Geld zu bekommen, obwohl sie vor Gericht recht bekommen haben.
Das wäre ja eine unglaubliche Taktik. Aber wenn Sie es sagen …
Sind diese Kalamitäten geschäftsschädigend für die neu gegründete Theater Reichenau GmbH?
Da fragen Sie die falsche Person. Ich bin die künstlerische Leiterin und habe von Anfang an alles, was mit der Geschäftsführung zusammenhängt, von mir weggehalten. Ich möchte zum Beispiel nicht mit Kollegen und Kolleginnen über Gagen reden.
Das gilt auch für Ihren Mann Dirk Nocker und Ihre Tochter Paula Nocker. Aber wenn Sie einen Star, zum Beispiel Stefan Jürgens, ködern wollen, dann werden Sie ihm doch etwas anbieten müssen?
Ich mache ein Engagement schmackhaft – und die Geschäftsführung weiß schon, wie das einzustufen ist. Natürlich will ich, dass alle Kolleginnen und Kollegen gut bezahlt werden.
Was aber nicht möglich ist.
Es braucht sich niemand zu beklagen. Wir machen das schon recht gut.
Und Sie machen weiter, habe ich gehört.
Mir wurde von Paul Gessl, dem Geschäftsführer der NÖKU, eine Vertragsverlängerung bis 2027 angeboten. Er sagte, dass Frau Mikl-Leitner, die Landeshauptfrau, es begrüßen würde.
Gratulation. Sie können daher besser planen?
Richtig.
Und könnten auf „Arme reiche Erbin“ zurückgreifen?
Darüber denke ich nach. Denn ich habe die Inszenierung ja schon im Kopf. Aber so, wie ich die Situation – mit den Erfahrungen der letzten beiden Jahre – analysiere, geht es wahrscheinlich in eine etwas andere Richtung.
Bevor wir dazu kommen: Wie alt ist Ihr Publikum?
In Reichenau ist es immer gleich alt. Als ich zum ersten Mal hier gespielt habe, sagte ich mir: „Oh Gott! Da sind ja nur alte Leute!“ Inzwischen sind 30 Jahre vergangen, aber das Publikum ist nicht viel älter geworden. Mittlerweile sind wir – das Publikum und ich – gleichaltrig.
Sie sind 60 – und weit jünger als Ihr Publikum.
Das stimmt nicht. Viele, die ich jetzt hier sehe, kenne ich als Schul-Eltern. Und natürlich ändert sich das Publikum mit den weit jüngeren Darstellerinnen und Darstellern. Denn die jungen Leute wie auch ihre Eltern bringen Freunde mit. In einer Aufführung waren zwei schwangere Frauen, das hat mich gefreut: Jetzt kommt Leben in die Bude! Aber es gibt natürlich auch das Stammpublikum: Es hält die Tradition von Sommerfrische hoch, schaut sich fünf Produktionen an – und dann ist es wieder erledigt für ein Jahr.
Das ist aber Ihr zahlungskräftiges Publikum. Müssten Sie nicht in erster Linie ihm Angebote machen?
Tu ich das nicht?
Mit den „Präsidentinnen“ von Werner Schwab?
Aber das Stück ist doch auch schon mehr als 30 Jahre alt! Und nicht ohne Grund nennt man es schon einen „Klassiker“! Und jene Besucher, die noch die Luft anhalten bei den ersten Fäkalienwörtern, kriegen zumindest die Begeisterung im Saal mit. Aber natürlich war der Kartenverkauf nicht so, wie ich das gerne gehabt hätte.
Nestroys „Jux“ hingegen war ausverkauft. Und Sie hätten noch etliche weitere Vorstellungen ansetzen können.
Ja. Ich hätte auch „Des Teufels General“ öfter spielen können. Dafür muss ich erst ein Gespür bekommen. Richtig eingeschätzt habe ich aber „Die Kapuzinergruft“. Ich hoffte, dass die Joseph-Roth-Dramatisierung funktioniert. Und sie hat eingeschlagen.
„Tartuffe“ jedoch nicht so.
Das war ein Experiment, wenn auch nicht so eines wie „Die Präsidentinnen“.
Sie wollen aber schon Theater fürs Publikum machen?
Ich habe immer Theater fürs Publikum gemacht. Was soll ein Theater ohne Publikum? Es gibt nichts Traurigeres als ein leeres Theater oder einen leeren Zirkus.
Nun sagen Sie, dass es in eine andere Richtung gehen soll?
Ich will das Theater nicht neu erfinden. Ich will gutes Theater machen. Und ich bin immer dafür, dass man die Stücke so spielt, wie es gemeint war. Weil ich eine sehr aufmerksame Schülerin von Claus Peymann war, geht es mir um die Sprache: Warum der Beistrich? Warum das Rufzeichen? Wann ist eine Pause nötig? Wie musiziert man miteinander? Sprache! Das ist für mich die Grundlage für gutes Theater. Ist es immer gewesen, auch im Reinhardt-Seminar.
Sie spielen immer wieder mit Peymann – und mit Hermann Beil – die großartigen Dramolette von Thomas Bernhard. Sollten Sie ihm nicht eine Regie anbieten?
Natürlich wäre es ein Traum von mir, ihn einen Kleist machen zu lassen. Aber die Frage ist, wie man das innerhalb eines Festivals hinbekommt. Wenn Claus Peymann inszeniert, kann man nebenher nichts anderes tun.
Und kommt Beil wieder?
Das hoffe ich sehr. Er hat mir bei den „Präsidentinnen“ sehr geholfen.
Sie mussten sich kurzfristig, während der Proben, von zwei Darstellern trennen.
Ja. Ich rief ihn in der Not an: „Ich brauche eine Mariedl!“ Und er sagte: „Ruf die Therese Affolter an!“ Sie erbat sich eine halbe Stunde Bedenkzeit – und rief bereits nach fünf Minuten zurück.
Jetzt sind wir abgeglitten. Sie haben gesagt, Sie wollen in eine andere Richtung gehen.
Was nach Reichenau gehört, ist eine Zeitreise – wie die „Kapuzinergruft“. Sie beginnt, wenn man in Payerbach aus dem Zug steigt. Man erwartet sich das hier. Auch eine Komödie tut gut. Aber ich fände es toll, wenn man über klassische Stücke etwas anders nachdenkt. Wenn es einen direkten Bezug zur Gegenwart gibt. „Andere Richtung“ ist also vielleicht falsch ausgedrückt. Ich will behalten, was die Leute lieben. Es wird also im kommenden Sommer wieder einen Nestroy geben, es wird auch wieder den Robert Meyer geben, weil er ein Spezialist dafür ist. Als Regisseur und als Schauspieler. Und ich nehme mir Wünsche des Publikums zu Herzen, zum Beispiel: „Wir haben so lange keinen Schnitzler mehr hier gesehen.“ Aber ich träume auch von einer Uraufführung. Und von den Klassikern der jüngeren Generation, darunter Wolfgang Bauer oder Thomas Bernhard.
Und wie geht es mit Ihnen weiter? Sie haben zunächst erklärt, in der kommenden Saison keine Premiere am Burgtheater zu spielen, weil Sie sich auf die Leitung des Reinhardt-Seminars konzentrieren wollten. Aber dann haben Sie den Job niedergelegt. Nun könnten Sie doch wieder mehr spielen …
Trotzdem nicht. Durch dieses Stolpern musste ich anhalten – und nachdenken. Ich befinde mich im letzten Drittel meines Lebens. Und frage mich: Wie möchte ich es verbringen? Wo und mit wem? Und so werde ich in der letzten Saison von Direktor Martin Kušej keine Premieren spielen. Aber danach, mit Beginn von Stefan Bachmann, werde ich gestärkt wieder mitmachen. Natürlich in Neuinszenierungen. Ich wollte einfach einmal aussetzen, mir das Spielfeld von außen anschauen. Ich habe zum Beispiel nicht verstanden, warum „Die Stühle“ abgesetzt wurden. Denn jede Vorstellung war ausverkauft!
Was sehen Sie noch auf dem Spielfeld Burgtheater?
Ich würde sagen: Es läuft ganz gut – für uns in Reichenau. Joachim Meyerhoff trat hier auf – und auch Caroline Peters. Und Christiane von Poelnitz haben wir angefragt.
Sie sind als Leiterin zurückgetreten – auf Druck?
Junge Menschen auszubilden, ist mir nach wie vor ein großes Anliegen. Aber ich bin zurückgetreten, weil ich keine Lust hatte, darum zu kämpfen und mich rechtfertigen zu müssen. Ich bin traurig, aber auch befreit. Und ich habe allen Studierenden, die diesen Sommer in Reichenau gespielt haben, die Möglichkeit gegeben, aus dem Vertrag auszusteigen. Das hat aber niemand getan. Was kann Besseres passieren, als von einem Wolfgang Hübsch oder einer Julia Stemberger an der Hand genommen zu werden? Ich finde, dass jede Studentin, jeder Student die Chance bekommen sollte, in einer Produktion von Anfang bis zum Ende mitzuwirken. Nicht nur im Simulator in der Schule, sondern draußen.
Sie haben Ihren Mann in Reichenau eingesetzt und ihm einen Lehrauftrag am Seminar verschafft. Daher wirft man Ihnen Nepotismus vor.
Dass ich ihn liebe, ist klar. Dass ich ihn für einen großartigen Schauspieler halte, ist auch klar. Wir haben uns auf der Bühne des Burgtheaters kennengelernt. Aber trotz alledem ist es nur ein Vorschlag, den ich als künstlerische Leitung mache. Ich kann sein Engagement nicht alleine bestimmen. Und ich unterzeichne auch nicht den Vertrag. Hinzu kommt, dass mein Mann in der Vergangenheit in Reichenau viel mehr als ich gespielt hat. Nun soll er nicht mehr spielen dürfen, weil er mit mir verheiratet ist? Das kann doch auch nicht richtig sein.
Er wird daher auch nächstes Jahr auf der Bühne stehen?
Wenn er nicht absagt. Und wegen des Lehrauftrags: Es waren anderthalb Stunden in der Woche. Weil es um Film ging – und mein Mann ein wandelndes Filmlexikon ist. Ja, das habe ich ihm ermöglicht. Ich stehe nach wie vor dazu.
Rektorin Ulrike Sych hat den von ihr unterschriebenen Vertrag nun aufgelöst. Sie aber unterrichten weiter?
Ich habe vor, ab Herbst für ein Jahr in Karenz zu gehen.
Weil die Kränkung durch die Studierenden zu groß war?
Nein. Die sind jung und denken, dass es eine Revolution geben muss. In meinen Anfängerjahren war ich in einem Ensemble, das den Generalintendanten von Bremen gestürzt hat. Wir alle haben unterschrieben, ich bin mitgelaufen. Das hat mir später sehr leidgetan. Daran musste ich jetzt öfters denken. Und vielleicht ist Ihnen aufgefallen: In den letzten acht Jahren gab es vier Leitungswechsel. Warum? Also – das sollte man überprüfen.
Der Hund steckt in der Organisationsstruktur.
Richtig. Auch da möchte ich gerne mal auf das Spielfeld gucken. Und deshalb nehme ich mir die Auszeit.
Die Rektorin will bis September analysieren lassen. Weiß sie, dass man etwas an der Struktur ändern muss?
Das ist ja auffällig. Das muss ihr aufgefallen sein.
Es darf zum Beispiel, um Übergriffe zu verunmöglichen, kein Unterricht in ungeschützten Räumen stattfinden. Er findet aber statt.
Wenn er angemeldet und genehmigt wird, ist das ja kein Problem. Aber nicht alle melden ihn an.
Und die Studierenden lassen sich im Fall von wichtigen Regisseuren darauf ein, weil sie es sich nicht mit ihnen verscherzen möchten. Da geht es um Abhängigkeiten.
Nicht nur. Ich habe den Filmregisseur István Szabó unterrichten lassen. Er ist fantastisch! Er erklärt z. B., welche Bedeutung ein kurzes Innehalten haben kann. Aber mir wurde das vorgeworfen. Denn er macht keine Filme mehr – und bringt keine Jobs. Da bricht mir das Herz. Statt dass man dankbar ist, etwas lernen zu können.
Sie haben jetzt Kapazitäten frei. Könnten Sie das Theater von Reichenau auch unter dem Jahr nutzen?
Ja, könnte ich. Mir schweben ein paar Sachen vor – im Bereich der Literatur. Das fände ich nicht unspannend.
Oder ein Weihnachtsspiel?
Schöne Bescherung! Also, dieses Jahr schaffe ich das nicht. Aber für nächste Weihnachten können wir gerne drüber nachdenken.
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