Biennale Venedig: Wie Buntheit ins globale Bewusstsein kommt
Es ist die Venedig-Biennale, die stärker als wohl alle zuvor um einen Begriff kreist: „Dekolonisierung“. Kein anderes Thema ragt in so viele der Länderbeiträge zum weltweit noch immer wichtigsten Festival bildender Kunst hinein, durchzieht die Hauptausstellung und viele jener Präsentationen, die das offizielle Programm umkreisen – wenngleich auch die Kriege in Gaza und der Ukraine auf der auf Lagunengröße geschrumpften Weltbühne nicht zu ignorieren sind.
Die Triebfeder aber ist das Streben nach einer geistigen wie ästhetischen Umwälzung: "Dekolonisierung" heißt auch, zu verdeutlichen, wie die jahrhundertelange Unterwerfung von Ländern und Menschen heute nachwirkt – und die daraus resultierenden Abhängigkeiten und Ungerechtigkeiten schrittweise abzubauen.
Begreift man Kunst als eine Sphäre, in der sich Menschen ein Bild von der Welt und ihrem Platz darin machen, dann ist das politische Anliegen auch ästhetisch: Wie lässt sich eine andere Welt darstellen? Und lässt sie sich nicht nur abbilden, sondern auch erwirken? Indem die diesjährige Biennale hier ein Spektrum an Möglichkeiten ausbreitet, ist sie eine wichtige Veranstaltung.
Der Garten der Ex-Kolonialmächte
Oft wurde schon angemerkt, dass sich das koloniale Denken in Venedig bereits im Ausstellungsparcours der Giardini abbildet, wo die eine Achse von den Pavillons der Ex-Kolonialmächte Spanien, Belgien und den Niederlanden gesäumt wird, während am anderen Ende das Trio Frankreich, Deutschland und Großbritannien thront.
Die Briten schickten heuer den in Ghana geborenen Künstler John Akomfrah ins Rennen, eigentlich schon ein Veteran: Seine handwerklich perfekten Videos, die oft an romantische Bildideen anschließen, sind hier mit Klanginstallationen verknüpft, in denen es um die Symbolik von Wasser geht. Es plätschert also buchstäblich dahin, eine Verbindung zu postulierten Kolonial-Themen erschließt sich aber nicht: Ein ärgerliches Auseinanderklaffen von Konzept und Ausführung.
Zugänglicher ist da der französische Pavillon, in dem der aus Martinique stammende Julien Creuzet Videos und Hängeskulpturen präsentiert, oder jener von Dänemark, das ebenfalls auf seine Kolonialgeschichte verweist: Der Inuit-Künstler Inuuteq Storch aus Kalaallit Nunaat – besser bekannt als Grönland – zeigt mit Fotos, wie sich die indigenen Bewohner in Kleidung, Lebensweise und Selbstbild flexibel zwischen Assimilation und Tradition bewegen.
Die Abbildung von „Anderen“ als Exoten, deren Individualität hinter Trachten und sonstigen Attributen verschwindet, war eine beliebte Darstellungsform der Kolonialzeit, an der sich viele Künstler abarbeiten. Im Pavillon Spaniens wird diese Völkerkunde-Ästhetik erneut bemüht und kritisiert, der Erkenntniswert ist begrenzt.
Aufschlussreicher ist der Beitrag der Niederlande, deren Pavillon – vorderhand ein Raum voller Skulpturen – nur Einstiegspunkt in faszinierend vielschichtiges Projekt ist. Die Skulpturen, ursprünglich aus Lehm geformt und in einer Masse aus Kakao und Palmöl nachgegossen, sind die Bindeglieder zu einer Galerie in einer ehemaligen Plantage in der Demokratischen Republik Kongo, in der besagte Rohstoffe ehemals für den Unilever-Konzern angebaut wurden.
Das dort lebende Künstlerkollektiv CATPC konnte dank seiner internationalen Kunst-Aktivitäten bereits 200 Hektar Land zurückkaufen und bestellt es nun in nachhaltiger Form. Der Transfer wird in Videos und einem Live-Stream in Venedig dokumentiert: „Kein White-Cube-Galerieraum kann von sich behaupten, dekolonisiert zu sein, wenn die Plantagen es nicht sind“, heißt es dazu.
Dekolonisieren und Einschmieren
Es ist wohl der springende Punkt: Wo braucht es direkte Aktion? Wo ist Ästhetik ein wirksames Mittel zur Bewusstseinsbildung, wo nur Kosmetik? Die Biennale zeigt, dass sich zumindest auf künstlerischer Ebene der Dialog zunehmend ausdifferenziert hat und eine Unterscheidung in „den Westen und den Rest“ teils obsolet macht.
"Indigen" ist nicht "traditionell"
Künstler wie Jeffrey Gibson, der den US-Pavillon mit quietschbunten indianischen Ornamenten verwandelt hat, oder Tesfaye Urgessa, der mit seinen von Picasso, Francis Bacon und afrikanischer Kunst inspirierten Gemälden die einstige italienische Kolonie Äthiopien bei ihrem allerersten Biennale-Auftritt repräsentiert, sind mittlerweile arriviert: Sie zeigen, dass nicht-westliche Bildformen, Ornamente und Rituale nicht nur eine Sache der Tradition sind, sondern auch Gegenwart und Zukunft haben.
Dass die Venedig-Biennale bei alldem eine exklusive Veranstaltung bleibt und viele Menschen des „globalen Südens“ schon aus Visumgründen nie die Gelegenheit bekommen, an ihr teilzunehmen, gehört zu den vielen Widersprüchen, die auch diesmal unaufgelöst bleiben.
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