"Jeder Mensch ist ein Ausländer - fast überall": Spätestens seit den 1990er-Jahren behauptet sich dieser Spruch auf T-Shirts als Statement gegen Xenophobie und für die Solidarität mit Geflüchteten - auch wenn die meisten Träger und Trägerinnen die Erfahrung des Fremdseins selbst gar nie gemacht haben.
Auf der Biennale Venedig hat der Chefkurator Adriano Pedrosa, ein Brasilianer, nun ein ähnliches Motto ausgegeben: "Stranieri Ovunque", zu deutsch etwa "Fremde überall", ist das Leitmotiv der so genannten "internationalen Ausstellung", die traditionell den zentralen Pavillon der Giardini sowie die lange Saalflucht des Arsenale befüllt und von der globalen Kunstwelt als Statement zur Gegenwartskunst - oder zur Gegenwart schlechthin - gelesen wird.
Allein: Die Schau fühlt sich über weite Strecken nicht nach Gegenwart an.
Schon im Vorfeld war angemerkt worden, dass 55 Prozent der Künstler in Adriano Pedrosas Ausstellung nicht mehr am Leben sind - der höchste Toten-Anteil der bisherigen Biennalegeschichte.
Die Idee, die Gegenwart auch mit einem Blick in der Vergangenheit zu verbinden, hatten freilich auch schon andere Biennale-Kuratoren, nur bringt bei Pedrosa die Betonung des Vergangenen keinen Erkenntniswert hervor: Ein Selbstporträt des Ägypters Ahmed Morsi (1970), eine abstrakte Komposition der Brasilianerin Judith Lauand (1954) oder ein an Picassos "Guernica" erinnerndes Motiv der aus Mosambik gebürtigen Bertina Lopes (1970) sieht im Grunde aus wie Malerei, die man in den angegebenen Entstehungszeiträumen vermuten würde. Dass sie 2024 auf das Biennale-Podest gehoben wird, ist eben aus der Biografie der Künstlerinnen begründet - sowie eben aus dem Umstand, dass sie im einen oder anderen Kontext "Fremde " waren.
Es erweist allerdings den Fremden keinen Gefallen, wenn man sie über einen Kamm schert - und Pedrosa gibt in seinen Raumarrangements so gut wie keine Anhaltspunkte, was die Arten des Andersseins verbindet oder auch trennt. So ist der Niederösterreicher Leopold Strobl, dessen kleinformatige Überzeichnungen von Zeitungsbildern wunderbar verrätselte Landschaftsansichten ergeben, mit großformatigen Gemälden der US-amerikanischen, den Cherokee angehörigen Malerin Kay Walking Stick und Wüstenansichten des Libanesen Aref El Rayess konfrontiert. Alles Landschaftsbilder, ja - doch die Zusammenstellung erhellt darüber hinaus nichts.
Alle anderen Anderen
Gewisse Achsen des Andersseins lassen sich in Pedrosas Kosmos wohl bald ausmachen: Sehr dominant ist die Ästhetik von Indigenen - als sichtbarstes Zeichen wurde das Eingangsportal des Zentralpavillons vom MAKHU-Kollektiv, einer Gruppe aus dem Amazonasgebiet, bunt ornamentiert. Stark präsent sind auch Persönlichkeiten, die sich unter dem Begriff "Queer" subsumieren lassen, also von der heterosexuellen Norm oder jener der Binarität der Geschlechter abweichen.
Und schließlich sind da noch alle anderen Anderen - eben Autodidakten wie Strobl, der aus dem Umfeld der Gugginger Künstler kommt. Oder die "wiederentdeckte", in Bologna lebende Österreicherin Greta Schödl, die aus der Wiederholung von Schriftzeichen völlig eigenständige Bildformen schafft - und sich damit durchaus etabliert hat, nur eben nicht in Österreich oder im Blickfeld von Menschen, die globale Kunstevents gestalten.
Da Pedrosa sich mit seinem Fokus auf das Exkludierte aber nicht allzusehr mit Ästhetik aufhält, ist es in dem Parcours - so viel mediokre Malerei, Teppiche und "Flachware", so wenig Varianz an Materialien oder Medien - sehr schwierig, die vorhandenen starken Statements herauszufiltern.
Zu nennen sind etwa die minimalistischen, mit Ziegelbrett-Struktur versehenen Gemälde der Malerin Maria Taniguchi aus Manila. Die Fotos geometrischer Zäune von Kiluanji Kia Henda, die als Bilder funktionieren, aber auch als Hinweis dienen, wie diese Zäune Klassen trennen. Oder die Figurenbilder des 30-jährigen Louis Fratino, die auch schwulen Sex darstellen, aber nicht von diesem Inhalt, sondern von der kraftvollen Malerei definiert werden.
Sehr oft aber scannt man nur die überlangen Wandtexte nach den Stichworten (queer, indigen, migrantisch, anders), um zu erfahren, in welchem Sektor das Gesehene nun zu verorten ist. Der Satz "Es ist das erste Mal, dass XYZ auf der Biennale gezeigt wird" steht fast immer wie das Amen am Ende: Sieh her, böse Kunstwelt, wen du bisher nicht beachtet hast!
Das Trumpf-As des Anderen
Dieser Antagonismus scheint 2024 freilich auch schon überholt: Obwohl Diskriminierung in der Welt draußen zweifellos ungebremst real ist, hat sich die Kunstwelt in der letzten Dekade schon überdeutlich mit ihren blinden Flecken und Schräglagen beschäftigt.
Diese Fähigkeit zur (Selbst)kritik ist auch eine ihrer Stärken - gepaart mit der Fähigkeit, einen Sinn für Differenzierung heranzubilden, nicht nur Fragen der Gerechtigkeit, sondern auch solche der Ästhetik und der Form. Indem die Hauptausstellung der Venedig-Biennale all diese Kriterienbildung mit der Trumpfkarte des "Anderen" sticht, schwächt sie ihr eigenes System. Und Künstler finden sich allzuoft neben Fremden wieder, denen sie nie etwas zu sagen hatten.
Die Kunstbiennale von Venedig ist die traditionsreichste Ausstellung ihrer Art und gilt nach wie vor als Orientierungspunkt in der globalen Kunstwelt - wenngleich Kritik an ihrer Form seit Jahrzehnten geäußert werden. Die Schau besteht aus einer thematischen "Internationalen Ausstellung", die von einem Kurator oder einer Kuratorin gestaltet wird, und den Beiträgen (Pavillons) einzelner Länder. Zudem gibt es eine Vielzahl flankierender Ausstellungen. Offiziell für Publikum eröffnet die Biennale am Samstag (20. 4.). Dann werden auch die "Goldenen Löwen" für die besten Länderbeiträge und Beiträge zur Hauptausstellung vergeben. Die Biennale läuft bis zum 24. 11. 2024.
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