Arik Brauer-Kirche: Ein Lichthof zwischen den Religionen
"Der zweite Bezirk erinnert ein wenig an Jerusalem", sagt Dechant Ferenc Simon. Dass in der Gegend vielgestaltige jüdische Gemeinden ansässig sind, ist gemeinhin bekannt – doch auch Muslime und Christen verschiedenster Herkunft und religiöser Ausprägung haben in der Region zwischen Donaustrom und Donaukanal ihre Heimat gefunden.
In der Kirche am Tabor, für die Simon seit 20 Jahren als Pfarrer zuständig ist, laufen viele dieser Stränge zusammen. Simon ist nicht nur Oberseelsorger der Ungarn in Österreich und innerhalb der Erzdiözese Wien für die ungarische Gemeinde zuständig, er stellt sein Haus auch der indonesischen Gemeinde zur Verfügung. Die "malankarisch-orthodoxe Gemeinde", die ihre Wurzeln in Kerala/Indien hat und sich auf den Apostel Thomas als Gründer beruft, praktiziert ebenfalls hier: Simon lernte ihre Vertreter während seiner Zeit als Jugendseelsorger kennen.
Brückenbau
"Ich glaube, es ist unsere Zukunft, dass wir alle zusammenarbeiten", sagt Simon, der sich auch im christlich-jüdischen Dialog seit Jahren engagiert. Dass seine Arbeit in der sogenannten "Arik Brauer-Kirche" der Leopoldstadt ihren Ort hat, ist dabei nur stimmig. Der am 24. Jänner verstorbene Künstler gestaltete 1996 die Fassade des von 1967 bis 1971 errichteten Baus – mit einem Bildprogramm, das die Zusammenhänge zwischen Juden- und Christentum hervorkehrt.
"Das Abendmahl im zentralen Bild hat alle Elemente eines Seder-Fests", erklärt die Fremdenführerin Gabriela Kleesadl. "Man sieht die symbolischen Speisen, die am Vorabend des Pessach-Fests gegessen werden – das Bitterkraut, das Lammfleisch, Charosset (ein Fruchtmus), das ungesäuerte Brot." In der untersten Zone des Bildes verweist eine Parade von Gestalten auf das Lied "Chad Gadja", das traditionell am Sederabend gesungen wird: "(....) der Ochse trinkt das Wasser, der Schlächter schlachtet den Ochsen, der Todesengel tötet den Schlächter, Gott tötet den Todesengel, und die Welt ist erlöst", heißt es darin. Zusätzlich sind Hinweise auf die christliche Erzählung zu sehen – etwa ein Strick, der auf den Selbstmord des Judas deutet, oder ein Hahn, der auf Petrus’ Verrat hinweist.
Kleesadl selbst ist unweit der Kirche, auf der Taborstraße, aufgewachsen. Seit sie weggezogen ist, sei nicht nur die heutige jüdische Gemeinde sichtbarer geworden, findet sie, sondern auch das furchtbare Schicksal der Jüdinnen und Juden, die vor 1938 hier gelebt hatten.
Un-Sichtbare Spuren
"Dass die Schule in der Sperlgasse, in die ich als Kind gegangen bin, ein Sammellager war, habe ich erst als Erwachsene erfahren", sagt Kleesadl. Dass Brauer selbst den Holocaust in seinem Fassadengemälde thematisierte, sei etwa in der Figur der Maria in der linken Tafel ersichtlich, erklärt sie: Die Komposition gleicht fast exakt dem Gemälde "Mein Vater im Winter" von 1983/’84, in dem Brauer seinen – in einem Konzentrationslager ermordeten – Vater mit dem gelben "Judenstern" darstellte. Im Gemälde an der Kirche trägt Maria das Jesuskind, dessen Kopf in einer Kappe steckt, die in Form des Davidsterns ausfranst. "Auch Maria hätte diesen Stern tragen müssen", sagt Kleesadl.
Wenn Gabriela Kleesadl in Prä-Corona-Zeiten Touristen durch Wien führte, kamen diese oft aus Thailand: "Die Entscheidung, diese Sprache zu lernen, war eine der besten meines Lebens", sagt sie. Ein Jahr verbrachte sie zum Sprachstudium in Bangkok, auch jetzt hält sie ihre Kenntnisse in Schuss. Kleesadl ist zudem Rangerin im Nationalpark Donauauen und setzt neben der Kultur- auf Naturvermittlung. Kontaktmöglichkeit: kleesadl.gabriela(at)aon.at
Kirche am Rand
Als das Bild in Auftrag gegeben wurde, seien Brauers Verknüpfungen von Christen- und Judentum keineswegs unumstritten gewesen, weiß Ferenc Simon zu berichten. Dass die Kirche am Tabor etwas sichtbarer werden sollte, war aber doch das Ziel.
Das Gotteshaus war erst nach langem Drängen als Ersatz für eine frühere Notkirche erbaut worden; die Auflage war, dass am selben Bauplatz auch zwei fünfstöckige Wohnhäuser entstehen sollten. Dem Architekten Ladislaus Hruska gelang es immerhin, zwischen den blockartigen Gebäuden vor allem durch den Einsatz von Dachfenstern einen lichten Raum zu schaffen, der zum Altar hin heller wird.
Schlicht blieb der Bau dennoch: "Wir leben in einer Zeit, in der eine weitgehende Entfremdung der Menschen von der Kirche vorherrscht. Ein monumentaler Turm oder eine auffällige Konstruktion würden eine Bedeutung der Kirche vortäuschen, die sie nicht mehr hat", hieß es in einem Prospekt, der anlässlich der Einweihung vor nun bald 50 Jahren erschien.
Dialog in Entwicklung
In den kommenden Jahren könnte sich die Sichtbarkeit der Kirche allerdings durch den massiven Umbau des Stadtviertels erhöhen: Das Gelände des angrenzenden Nordwestbahnhofs ist eines der größten innerstädtischen Entwicklungsgebiete Wiens, auf dem 44 Hektar-Areal sollen bis 2033 Wohnungen für 16.000 und und Arbeitsflächen für 5000 Menschen entstehen. "Wie weit sich daraus eine Durchlässigkeit und Kontaktmöglichkeit entwickelt, ist abzuwarten", sagt Ferenc Simon. Für die Ermöglichung von Dialogen – zwischen Religionen und schlicht zwischen unterschiedlichen Menschen – gibt jedenfalls viel zu tun.
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