Letzte Orte vor der Deportation in Wien

Ausstellung: In diesen ehemaligen jüdischen Schulen befanden sich die Sammellager.
Die Vernichtung Wiener Juden begann in der Stadt – in den Sammellagern im zweiten Bezirk.

Es ist der Moment, vor dem alle Insassen Angst haben: Wenn Anton Brunner und seine SS-Männer in die Sammellager kommen. Sie entscheiden, ob die Menschen heute oder morgen in ihr Elend fahren. „Da wirst dann aufgerufen und musst dann hin. Und er schreit wie wahnsinnig. Und schimpft: ,Judenbagage, elendige! Muss ich meine Zeit mit euch verbringen‘“, erzählt Zeitzeugin Rosa Ringler.

Letzte Orte vor der Deportation in Wien
Sie erlebt die „Kommissionierung“ mit: Dokumente vorweisen und hoffen, dass etwa ein nicht-jüdischer Verwandter oder Elternteil reicht, um freizukommen. Brunner hat zwei Stempel in der Hand, der eine steht für „Evakuierung“, der andere für „Entlassung“. „Er schreit, wird wahnsinnig und fuchtelt herum“, erinnert sich Ringler. „Da habe ich mir gedacht: ‚Hoffentlich erwischt er jetzt den richtigen Stempel!‘“ Sie hat Glück, sie und ihre Mutter kommen frei, da ihr Vater „Arier“ ist. Die meisten Internierten werden auf den Weg in die Vernichtungslager geschickt. Zuvor müssen sie noch einen Vermögensverzicht unterschreiben und Wertgegenstände aushändigen. Vor ihren Augen zerreißen SS-Leute Heimatscheine und Reisepässe.

„Es war der letzte Akt der Demütigung“, sagt Heidemarie Uhl. Die Historikerin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und ihre Kollegin Monika Sommer widmen den Sammellagern im zweiten Bezirk nun eine Ausstellung. Von Februar 1941 bis Oktober 1942 gehen 45 Transporte mit 45.451 Juden von Castellezgasse 35, Kleine Sperlgasse 2a, Malzgasse 7 und 16 weg. „Die Nationalsozialisten wollten die Juden zunächst vertreiben. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 setzten sie auf Vernichtung“, erklärt Uhl. In Wien errichteten sie dazu Sammellager, in ehemaligen jüdischen Schulen in der Leopoldstadt. Per Post forderte die NS-„Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ Juden auf, sich dort zu melden und „einzurücken“. Ihre Adressen erzwangen sie von der Israelischen Kultusgemeinde.

„Wohin soll ich?“

Künstler Arik Brauer (87) berichtet von einem Freund, der ihm seine Karl-May-Bücher schenkte. Denn er musste in das Sammellager. Brauer fragte ihn, warum er nicht weglaufe. „Wohin soll ich? Wo soll ich hinrennen?“, sagte er. Stigmatisiert mit dem gelben Stern an der Kleidung waren Juden entrechtet und mussten in überfüllten Wohnungen leben. Dort wurden sie von den NS-Schergen systematisch ausgehoben, erklärt Uhl.

Letzte Orte vor der Deportation in Wien
Ausstellung Letzte Orte vor der Deportation, honorarfrei für Berichterstattung
Zwei „Ausheber“ standen vor der Tür, während SS-Männer, darunter der berüchtigte Josef Weiszl, die Wohnung stürmten. Alle mussten ihre Koffer packen, darauf Namen und Adresse schreiben. Dann brachte man sie auf Lastwägen in die Lager. Zeitzeuge Herbert Schwarz erinnert sich: „Wir haben gewusst, dass der Tag kommen wird, an dem sie uns schnappen. Wir haben nichts machen können.“
Letzte Orte vor der Deportation in Wien
Ausstellung Letzte Orte vor der Deportation, honorarfrei für Berichterstattung
Bis zu 1000 Menschen harrten tagelang eingepfercht in den Turnsälen der ehemaligen Schulen aus. Niemand konnte raus, niemand durfte hinein. Was drinnen geschah, geht aus Journalbüchern hervor, die jüdischen Ärzte und Schwestern der Kultusgemeinde führen mussten. Etwa, wie oft sich Menschen umbrachten. Mit Gift oder durch einen Sprung aus dem Fenster. Aus Verzweiflung. Das zeigen Briefe, die Historikerin Uhl sehr bewegten. „Es gibt Texte, da läuft es einem kalt über den Rücken.“

Jene, die das perfide System der Vernichtung durchführten, bestrafte man nur bedingt. SS-Mann Josef Weiszl bekam lebenslang, wurde aber 1955 vorzeitig entlassen und bekam dann sogar Heimkehrerfürsorge. „Kommissionierer“ Anton Brunner wurde hingerichtet. Doch sein Vorgesetzter, Alois Brunner, floh und lebte unbehelligt weiter, angeblich in Syrien.

Ausstellung: „Letzte Orte vor der Deportation“; Krypta des Heldendenkmals/Äußeres Burgtor-Heldenplatz (bis 30. Juni 2017; Mo–Fr 9.00–11.30 &12.30–16.00)

Chronologie der Verfolgung in Österreich (Auswahl):

11.-13.März 1938: „Anschluss“, Beamte werden auf Hitler vereidigt. Berufs- und andere Verbote für Juden folgen.

18. März: Verhaftungen der führenden Mitglieder der Israelischen Kultusgemeinde.

18. April bis 15. Juli: Sechs Transporte in das Konzentrationslager Dachau.

26. April: Jüdisches Vermögen ab 5000 Reichsmark muss gemeldet werden.

16. Mai: Jüdische Schüler werden aus Wiener Pflichtschulen ausgeschlossen.

18. Mai: Die „Vermögensverkehrsstelle“ organisiert die „Arisierung“, Liquidierung jüd. Betriebe.

20. Mai: „Nürnberger Rassegesetze“ treten in Kraft: 201.000 Österreicher gelten als „jüdisch“.

20. August: Gründung der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Wien.

7. Oktober: Kennzeichnung jüdischer Pässe mit „J“.

9.-10.November: Novemberpogrom: Übergriffe, Gewalt und Plünderungen gegen Juden. Diese werden gezwungen, das Straßenbild wiederherzustellen und Schäden zu beheben.

12. November: Verordnung zur „Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“.

Dezember: Erste Rettungstransporte jüdischer Kinder nach England.

18.-26. Oktober 1939: Erste Deportationen nach Polen.

31. Juli 1941: Vorbereitung zur „Endlösung der Judenfrage“.

19. September 1941: Juden ab sechs Jahren müssen den „Judenstern“ tragen.

3. Oktober: Juden werden zur Zwangsarbeit verpflichtet.

23. Oktober: Sie dürfen nicht mehr auswandern.

16. November 1944: Auch „Mischlinge 1. Grades“ und „arische“ Ehepartner von Jüdinnen müssen zwangsarbeiten.

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