"All of Us Strangers": Im Kino gewesen. Geweint
Wäre Franz Kafka noch am Leben und hätte den Film „All of Us Strangers“ gesehen, hätte er vermutlich seine berühmte Bemerkung ins Tagebuch geschrieben: „Im Kino gewesen. Geweint.“
„All of Us Strangers“ (derzeit im Kino) von Andrew Haigh berührt sein Publikum. Besucher berichten, wie rings um sie herum die Menschen weinen und sie verstohlen nach Taschentüchern kramen – sofern sie nicht selbst damit beschäftigt sind, ein Schluchzen zu unterdrücken.
Aber „All of Us Strangers“ ist keine Schmonzette, die billig auf die Tränendrüse drückt. „All of Us Strangers“ ist ein mysteriöses Melodram, ein Film über Verlust und Trauer, über die verpassten Gelegenheiten im Leben – und über die Kraft der Liebe.
Das Geheimnis seines immensen Erfolgs bei Kritik und Zusehern liegt nicht nur darin, dass „All of Us Strangers“ exzellent geschrieben, hervorragend gespielt und wunderbar inszeniert ist. Es liegt auch daran, dass sich der Film absolut empfindungsecht anfühlt und man den Eindruck bekommt, jemand würde sehr persönliche Erfahrungen herzeigen und sich verletzlich machen. Diese Intimität und Innigkeit greift ans Herz, verbindet uns mit den Figuren – und rührt an unseren eigenen Schicksalen.
Besuch bei den Eltern
„All of Us Strangers“ beruht lose auf einer japanischen Romanvorlage und wurde von dem Briten Andrew Haigh („45 Years“) adaptiert. Der Regisseur verwandelte die weibliche Hauptfigur in einen männlichen Protagonisten und verarbeitete seine eigenen, oft schmerzhaften Erfahrungen, die er als junger schwuler Mann in den Achtzigerjahren gemacht hat.
Im Zentrum von „All of Us Strangers“ steht Adam, ein einsamer Drehbuchautor Mitte vierzig, der in einem anonymen Londoner Hochhaus lebt. Adam hat seine Eltern bei einem Autounfall verloren, als er noch keine zwölf Jahre alt war.
In seinem neuen Drehbuch versucht er, diesen Verlust zu verarbeiten, und taucht tief in die Erinnerungen an seine Kindheit ein: Er kehrt in sein Elternhaus zurück – und trifft dort seine noch jungen Eltern wieder. In den Begegnungen mit ihnen kommt es zu langen, emotionalen Gesprächen, in denen er ihnen von seiner Einsamkeit als Kind erzählt – und davon, dass er schwul ist.
Zur gleichen Zeit lernt er einen jüngeren Mann kennen und beginnt mit ihm eine Liebesbeziehung.
Geisterhaus
„Die Idee, dass ein Drehbuchautor in die Vergangenheit zurückkehrt und dort seine verstorbenen Eltern trifft, hat mich einfach nicht mehr losgelassen“, erzählt Regisseur Andrew Haigh im KURIER-Gespräch: „Es war nicht nur der Umgang mit der Trauer, der mich interessierte. Spannend war auch die Möglichkeit, sich mit der Vergangenheit zu konfrontieren.
Wir alle verlieren im Laufe unseres Lebens Menschen, die uns lieb waren – sei es durch den Tod oder sei es, dass eine Beziehung oder eine Freundschaft zu Ende gegangen ist. Ich glaube, dass die Vorstellung, gedanklich zurückzugehen und mit diesen Menschen reden zu können, ziemlich mächtig sein kann. Auch wenn ich beispielsweise mit meiner Mutter nicht die Gespräche geführt habe, die ich hätte führen sollen, hat mir der Film dabei geholfen, mich besser zu fühlen. Das ist die Kraft von Kunst.“
Haigh drehte im Haus seiner Kindheit, in das er vierzig Jahre lang keinen Fuß gesetzt hat: „Und trotzdem konnte ich mich an jedes Detail erinnern. Das Drehen dort hat sich für mich angefühlt wie in einem Geisterhaus, weil es von meinen eigenen Erinnerungen heimgesucht wurde.“
Zum Beispiel daran, wie es war, als schwuler Mann in den Achtzigerjahren im Angesicht der ausbrechenden AIDS-Krise aufzuwachsen.
Andrew Haigh, Jahrgang 1973, sitzt jetzt noch der Schreck in den Knochen, wenn er daran denkt: „Ich kann mich gut an damals erinnern. Es war eine furchtbare Zeit. AIDS hat gerade zugeschlagen, und man hat sein eigenes Leben mit Tod assoziiert. Beim Drehen sind meinem Hauptdarsteller Andrew Scott und mir alle diese Dinge wieder aufgestoßen.“
The Power of Love
Für die Rolle des Adam engagierte Haigh den irischen Schauspieler Andrew Scott, seiner Fangemeinde bekannt als Professor Moriarty in der Serie „Sherlock“ und als „sexy priest“ an der Seite von Phoebe Waller-Bridge in „Fleabag“.
Andrew Scott ist ebenfalls schwul und teilt mit Andrew Haigh die (schlechten) Erfahrungen dieser Generation: „Ich finde nicht, dass Schauspieler immer die gleiche Sexualität haben müssen wie die Figuren, die sie spielen“, sagt Haigh: „Das hängt immer vom jeweiligen Filmprojekt ab. Aber in diesem Fall erschien mir Andrew Scott als die beste Wahl.“
Altersunterschied
Tatsächlich spielt Andrew Scott gemeinsam mit seinem Filmpartner Paul Mescal, der in dem Indie-Film „Aftersun“ brillierte und in „Gladiator 2“ die Hauptrolle übernimmt, eine der berührendsten Liebesbeziehungen seit Langem.
Der Altersunterschied der beiden verweist auf den Erfahrungsunterschied zwischen den Generationen: „Ich glaube, es ist für eine jüngere Generation interessant zu sehen, wie schwer es für jene war, die in den Achtzigern aufwuchsen. Wir fühlten uns stigmatisiert und schambehaftet. Das heißt aber nicht, dass heute automatisch alles einfacher ist.“
Apropos Achtzigerjahre: Zwei Hits dieser Zeit schweben durch das Mysterium von „All of Us Strangers“: „Always on My Mind“ von den Pet Shop Boys und „The Power of Love“ von Frankie Goes to Hollywood – zwei wichtige Songs im Leben von Andrew Haigh: „Das ist die Kraft von Popsongs: Sie helfen, komplizierte Gefühle zu verstehen.
Deswegen lieben Jugendliche sie auch so sehr. ,The Power of Love‘ ist das große Thema des Films. Und dabei geht es nicht nur um romantische Liebe, sondern auch um die Liebe zwischen Eltern und Kindern.“
Bleibt nur noch das Ende von „All of Us Strangers“, das Platz für viele Lesarten bereithält: „Die Reaktionen darauf sind sehr interessant“, freut sich Andrew Haigh: „Ich glaube, dass sie von der jeweiligen Person abhängen: Ob sie heterosexuell oder schwul ist, Mann oder Frau, ob sie ihre Eltern verloren hat oder nicht, von ihrem Alter und ihrem Verständnis von Liebe. Das ist alles sehr spannend.“
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