Celibacy: Eine Pause von Sex und Dating ist die Lösung - oder?

Celibacy: Eine Pause von Sex und Dating ist die Lösung - oder?
Die nächste Freundin geht ins Zölibat, weil sie eine Pause von schlechten Dating-Erfahrungen will. Wird Sex als Wurzel des Übels zu Recht verteufelt?
Diana Dauer

Diana Dauer

"Ich habe keine Lust mehr. Ich brauche eine Pause von all dem." Sie sitzt - mal wieder - in einer Runde Vertrauter. Und klagt - mal wieder - Leid. Und erklärt - mal wieder-, dass sie ins Zölibat geht. 

Grund dafür ist nicht, dass sie einer wie auch immer gearteten Gottheit dienen möchte, sondern sich selbst. Die Entscheidung hat auch nichts mit Religion zu tun, sondern ist eine freiwillig gewählte und meist zeitlich limitierte Entsagung von Sex, Dating, Dating-Apps, Beziehung und allem Art-verwandten. 

Und was soll dieser neue Lebensabschnitt bringen? Es soll eine Zeit sein, in der man sich nicht herumschlägt mit toxischem Verhalten von potenziellen (Kurzzeit)-PartnerInnen, ohne Hook-Up-Kultur, die von Bedeutungslosigkeit und Austauschbarkeit sexueller Erfahrungen geprägt ist. 

Dadurch möchte man frei sein von emotionalem Stress, enttäuschten Erwartungen und unbefriedigenden Gelegenheitsbegegnungen. Dass die Begegnungen häufig unbefriedigend sein können, kennen vor allem Frauen. Und es ist auch mit Zahlen belegbar: Studien ergeben, dass 70 bis 100 Prozent der befragten Männer beim Heterosex einen Orgasmus haben. Im Unterschied: Bei Frauen sind es nur 30 bis 60 Prozent. Das nennt sich klingend Gender Orgasm Gap. 

Wobei das nicht der einzige Maßstab für qualitätsvolle sexuelle Erfahrungen sind - allerdings bleibt auch diese Qualität in der Hook-Up-Kultur häufig auf der Strecke. 

Das selbst gewählte Zölibat soll all diese Probleme lösen. Es wird eine Ich-Phase eingeläutet, ein legitimer Egozentrismus, ein gewolltes Allein-Sein.

Klingt alles nach herrlicher Selbstbestimmung, ist aber leider auch häufig Konsequenz einer oder mehrerer schlechter Erfahrungen im Bereich "Liebesg'schichten".

Die Neo-Zölibatäre in unserer Runde ist freilich keine radikale Vordenkerin. Das Ganze lässt sich völlig berechtigt als Trend bezeichnen und wird landläufig "Celibacy" (Englisch für Zölibat) genannt, obwohl diese Form von Enthaltsamkeit komplett ohne religiöse Motivation auskommt. 

Enthaltsamkeit trendet überhaupt schon seit einiger Zeit, und zwar nicht nur in den sozialen Medien. Der Hashtag #celibacy hat auf TikTok weltweit bereits 113 Millionen Aufrufe, 66 Prozent der Aufrufe stammen von 18- bis 24-Jährigen, 24 Prozent von 24- bis 35-Jährigen - also meiner Altersgruppe.

Ich will das Konzept verstehen. Vielleicht könnte ich auch eine Pause brauchen? Vielleicht sollte auch ich "zölibatär" leben? 

Auf TikTok und in Wien-Umgebung

Frauen, Männer und non-binäre Personen erzählen in Videos in sozialen Medien, dass sie in ihrer "Ära des Zölibats" sind, wie toll sie sich damit fühlen, wie befreit und was dazu geführt hat.

Ich höre mich in meinem Umfeld um - und siehe da:  Eva erzählt mir in einem Wiener Kaffeehaus, dass sie seit sieben Monaten enthaltsam lebt. Fredi berichtet mir bei einer Nudelsuppe, dass sie bewusst ein Jahr auf Sex verzichtet hat und Ella quatscht beim Joggen mit mir darüber, dass sie 1,5 Jahre "zölibatär" war. (Das sind nicht die echten Namen meiner Freund*innen und Bekannten und es leben nicht nur heterosexuelle Frauen freiwillig enthaltsam.)

Sex ist ein Politikum

Drastischer als in meinem Umfeld wird die Abstinenz auf Social Media politisiert. Und eines ist klar: Sex ist und war immer auch ein Politikum. 

Konkret an Frauen richten sich auf TikTok etwa Influencerinnen wie Lana del Redneck, die dazu aufrufen "Männer sexuell aushungern lassen" zu wollen. Heterosexuelle Frauen sollten "boy-sober" sein, also sexuell abstinent leben und sich von ihren Partnern trennen. Männer sollten so im Leben der Frau dezentralisiert werden (der generellen Dezentralisierung des Mannes kann ich etwas abgewinnen). 

Dass Sex oder eher die Abstinenz davon als Werkzeug eingesetzt wird, ist nicht neu. In der Geschichte gab es bereits einige Sexstreiks von Frauen, die dadurch gesellschaftlichen und sozialen Wandel erreichen wollten - und das auch das ein oder andere Mal geschafft haben. 

Allerdings scheint hier im Celibacy-Diskurs gleich so einiges vermischt zu werden. Sex-Streiks als politischer Aktivismus haben wohl wenig mit den zölibatären Phasen in meinem Umfeld zu tun. 

Die Neo-Zölibatäre vom Beginn dieses Textes erwartet nicht, dass durch ihre Enthaltsamkeit nun Sexismus oder brachiale Männlichkeit beerdigt werden (genauso wenig wie die anderen Befragten Kurzzeit-Enthaltsamen.)

Viel mehr möchte sie sich dem Modus operandi entziehen, der sie in ihrem (wenig liebevollen) Liebesleben unglücklich macht. Auf wundersame Weise könnten sich die Knoten durch Abstinenz lösen, ist die Hoffnung auf eine einfache Lösung. 

Die Gründe der freiwilligen SolistInnen sind zwar individuell formuliert, haben aber doch alle ähnliche Wurzeln: Sie alle scheinen negative Erfahrungen beim Dating gemacht zu haben, fühlen sich unglücklich und wollen weg von toxischen Beziehungen, die sich scheinbar ständig wiederholen. 

Sex scheint hier nur auf den ersten Blick ausgerufener Übeltäter - die Abstinenz nur im Bereich des Mystischen ein Heilsbringer. 

Das bestätigt mir auch der Psychologische Leiter des Instituts für Sexualpädagogik, Wolfgang Kostenwein. "Sex an sich ist nicht schuld, wenn Menschen in ihrem Sexual- und Liebesleben unzufrieden sind", so der Experte. Denn: "Die Sexualität ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass man sich auf toxische Beziehung einlässt."

Beziehungsmuster hinterfragen

Sich von einem Problem für eine Zeit abzuwenden und dann zu erwarten, dass alles anders ist, wenn man wieder damit anfängt, sei absurd. Aber: "Eine Pause, um sich von Erlebtem zu erholen, kann gut sein, allerdings sollte man in dieser auch Zeit daran arbeiten, seine Beziehungsmuster aufzubrechen und zu hinterfragen, warum man sich immer wieder in nicht wohltuende Beziehungen manövriert", erklärt der Sexualpädagoge und Sexologe. 

Da fällt mir ein Zitat ein, das scheinbar fälschlicherweise Albert Einstein zugeschrieben wird: "Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten." 

Dass Menschen sich immer wieder in schädliche Beziehungen begeben, bis sie komplett auslaugen, ist hoffentlich kein Dauerzustand. Das wünsche ich meinen FreundInnen und auch mir. Daher: Auf zur Arbeit an uns selbst.

"Dauerzustand" ist die Kolumne von Newsdesk-Redakteurin Diana Dauer über die Lebenswelt als kinderlose Millennial-Frau, über das Älter werden, Schablonen, die man ausfüllen muss und Alltags-Sexismus. diana.dauer@kurier.at

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