Oktoberfest, Übergriff und die Schuldige im Dirndl

Oktoberfest, Übergriff und die Schuldige im Dirndl
Auf dem Oktoberfest und Art-verwandten Festen werden Frauen schon fast traditionell belästigt und missbraucht. Wer hat Schuld? Die Frau selbst? Das meinen viele - auch Frauen.
Diana Dauer

Diana Dauer

Jedes Jahr aufs neue, wenn das Münchner Oktoberfest im September losgeht, gibt es Meldungen über sexuelle Belästigungen, Upskirting (das Filmen oder Fotografieren unter Kleider und Röcke) und Vergewaltigungen. Das ist so sicher, wie die Lederhose und das Dirndl zur Wiesn gehören. Zur Halbzeit wurden heuer bereits 31 Sexualstraftaten zur Anzeige gebracht  - davon eine Vergewaltigung. Fünfmal wurde Upskirting angezeigt. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.

Kein Wunder? Kein Grund zur Aufregung? Fast könnte man meinen, das übergriffige Verhalten der wankenden Bierverarbeiter in Lederhosen gehört zum Fix-Programm jeder Wiesn. "Das hätte ihr doch klar sein müssen. Also, bitte! Eine Frau kann nicht im Dirndl auf die Wiesn gehen und sich im Nachhinein beschweren", - dass ihr Fremde an den Po fassen? Unters Dirndl filmen, sie sexuell beleidigen, oder gar vergewaltigen? 

"Selbst schuld. Zieh dir was anderes an. Geh halt nicht hin. Und: Wenn sie einen Job in einem Bierzelt auf der Wiesn annimmt, muss sie wissen, was ihr blüht." Sie bekomme schließlich reichlich Trinkgeld. Ein weiteres Argument: Der Po-Grapscher sei zu alldem auch nicht mehr als eine Anerkennung des Gastes. Sexuelle Belästigung als Bonus zum Trinkgeld für den guten Service. Oder?

Nein heißt Nein

Nein. Mehr als Nein. (Das Wort, das auf der Wiesn offenbar keine Bedeutung hat.) Wenn einer Frau für Übergriffe, die ihr widerfahren, die Schuld gegeben wird, nennt man das Victim-Blaming.

Die Aussagen, die ich zu Beginn dieses Textes zitiere, kann man in unterschiedlichen Versionen - mal mit mehr Eloquenz, mal etwas simpler - in den Online-Kommentaren unter der Medienberichterstattung über eine Studie zu sexueller Belästigung unter weiblichem Wiesn-Personal lesen. Querbeet im Übrigen; in deutschen, österreichischen und auch Schweizer Medien.

Konkret hat die Studie ergeben: Drei von vier Frauen, die auf dem Münchner Oktoberfest arbeiten, erleben sexuelle Belästigungen. Aber nur ein kleiner Teil der Betroffenen wendet sich an den Vorgesetzten.

Opfer-Täter-Umkehr als Reflexhandlung

Wenn euch vor Fassungslosigkeit, nicht ob der Belästigung per se, sondern ob der Schuldzuweisung an Frauen, gerade der Mund offen steht, so ist es mir auch gegangen. So geht es mir nach wie vor, mir naiver Bewohnerin meiner gemütlichen Echo-Kammer. Besonders wurde dieser Hausfrieden gestört, weil ich lesen musste, dass hinter besonders krassen, Frauen-entwertenden Online-Kommentaren Frauen stehen.

Erschreckend wenig überrascht bin ich tatsächlich, dass diese Übergriffe auf der Wiesn allgegenwärtig sind. Ich war nie dort, aber ihr Ruf als Event, bei dem sexuell belästigendes Verhalten schon fast zum Brauchtum gehört, eilt dem Volksfest voraus.

Der deutsche Soziologe Sacha Szabo vom Institut für Theoriekultur in Freiburg (Baden-Württemberg) bezeichnete das Oktoberfest jüngst im Standard als Ort, an dem die “Normen des Alltags außer Kraft gesetzt werden”, unterstützt durch Alkoholkonsum führe das zum “zivilisatorischen Regress”.

Einen solchen zivilisatorischen Regress – ein wunderbarer Ausdruck für die ewiggestrige, Neandertaler-ähnliche Objektifizierung des weiblichen Körpers im Vollsuff - entdecke ich auch in der reflexartigen Opfer-Täter-Umkehr, die ich fälschlicherweise in einer überwundenen Vergangenheit wähnte.

Der arme Mann, kann nichts dafür

“Die Vorstellung, dass Frauen eine gewisse Verantwortung dafür tragen, ob sie vergewaltigt oder belästigt werden, entspringt sexistischen Rollenbildern, die Frauen als Verführerinnen (Täterinnen) darstellen und Männer als schutzlose Opfer, die ihren Trieben nicht widerstehen können", erklärt mir Melissa Nielsen, ihres Zeichens Expertin auf dem Gebiet der sexuellen Belästigung im Gastgewerbe, an die ich mich auf meiner Suche nach Erklärungen wandte.

Das Bild wird wohl von seinen Verteidigern nicht zu Ende gedacht: Im Umkehrschluss bedeutet das Urteil der freimütigen, anonymen KommentatorInnen (es tut fast weh, hier gendern zu müssen) doch auch, dass dem Manne, der an den meisten Schaltern dieser Welt sitzt (z.B.: Von 193 StaatschefInnen der Vereinten Nationen sind 180 Männer) keinerlei Selbstbeherrschung zugetraut wird. Ein riskantes Spiel mit dem Schicksal der Welt.

Falscher Glaube an Solidarität

Ich muss zugeben, dass ich mich über die Frauen, die erste Reihe fußfrei, Asche aufs weibliche, belästigte Haupt werfen, noch mehr ärgere als über die Männer. 

Ich bin wohl enttäuscht vom Verhalten jener, die ich fälschlicherweise als Natur-gegebene Alliierte glaubte. Und merke, dass auch ich dafür die Schuld bei den Frauen suche - ich bin also auch nicht besser als die, über die ich mich echauffiere.

Also, warum? Warum betreiben auch Frauen dieses Victim-Blaming?

Hätte sie doch nur kein kurzes Dirndl getragen?

Nielsen: “Auch Frauen übernehmen unbewusst sexistische Narrative, die tief in unserer Gesellschaft verwurzelt sind." Nielsen vermutet hier eine "Art unbewussten Selbstschutzmechanismus"

Schutzmechanismus? "Wer die Verantwortung für die Belästigung oder Vergewaltigung beim Opfer sucht, geht auch davon aus, dass der Übergriff durch das Opfer hätte verhindert werden können. Diese Illusion kann die Angst davor, selbst Opfer eines sexuellen Übergriffes zu werden, potenziell verringern.“

Nun, das kann ich tatsächlich etwas nachvollziehen. Viele Frauen haben eigene Schutzmechanismen internalisiert, weil sie den Übergriff - etwa nachts beim Heimgehen - bereits antizipieren. Der Schlüssel in der Hand, der Rock, der im Sommer nach unten gezogen wird, um weniger Haut zu zeigen, der Pulli, der um die Hüfte gebunden wird, um Körperform zu kaschieren. Oder wie viele Frauen auf der Wiesn: Die Radler-Hose, die unterm Dirndl getragen wird. 

Die amerikanische Professorin für Rechtswissenschaften Catharine MacKinnon hat mal geschrieben: “All women live in sexual objectification the way fish live in water.” 

Vielleicht sollten wir als Gesellschaft den Evolutionsschritt gehen und das Wasser verlassen. Ein Schritt dahin wäre, die “Tradition der Belästigung” zu brechen. Und wie funktioniert das? Wir müssen Opfern die Scham nehmen und die Schuld bei den Tätern finden.Und: Damit mehr Übergriffe zur Anzeige bringen.

Wäre doch schön, wenn es kein Dauerzustand für Frauen wäre, sich selbst schützen zu müssen. Oder?

"Dauerzustand" ist die Kolumne von Newsdesk-Redakteurin Diana Dauer über die Lebenswelt als kinderlose Millennial-Frau, über das Älter werden, Schablonen, die man ausfüllen muss und Alltags-Sexismus. diana.dauer@kurier.at

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