Allergien und Diabetes: Kinder haben andere Leiden als früher
Derzeit enden die Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen im sechsten Lebensjahr. „Als Kinderärzte würden wir uns wünschen, dass es auch zwei Untersuchungen im Jugendlichenalter gibt“, sagt Daniela Karall. Die stellvertretende Direktorin der Innsbrucker Universitätsklinik für Pädiatrie I ist seit Kurzem erste weibliche Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ).
Bei diesen Untersuchungen könnte es sehr stark um Prävention gehen, das Erkennen und Ansprechen von Risikofaktoren für die Gesundheit – von der falschen Ernährung bis zum Gewicht und Körperbild. „Wir sehen heute zum Teil ganz andere Probleme als früher – und das liegt auch daran, dass Kinder heute viel mehr gefordert sind als vor 20,30 Jahren.“
Überforderung
Höhere Anforderungen in der Schule, die Informationsflut, ein durchgeplanterer Alltag als früher mit weniger Freizeit und Muße, die ständige Verfügbarkeit in den sozialen Medien: „Das führt bei vielen zu einem Gefühl der Überforderung.“
Gleichzeitig gibt es aber positive Entwicklungen – etwa einen Rückgang bei jungen Rauchern. Außerdem: Mehr als 90 Prozent der elfjährigen Mädchen und Buben stufen ihren Gesundheitszustand als „ausgezeichnet“ oder „gut“ ein. Während dieses Gefühl bei den Burschen noch länger anhält, sinkt es bei den Mädchen im Laufe der Jahre immer mehr ab – bei den 15-Jährigen sind nur noch rund 80 Prozent mit ihrem Gesundheitszustand zufrieden, zeigen Befragungen wie die sogenannte HBSC-Studie.
Generell bezeichnen sich auch nur 58 Prozent der 11- bis 17-Jährigen als beschwerdefrei. Seit 2006 beobachten Experten in Umfragen einen Anstieg des Prozentsatzes an Jugendlichen, die über Beschwerden klagen. Der KURIER fasst die wichtigsten Entwicklungen zusammen:
Alkohol: Der Konsum unter Jugendlichen geht deutlich zurück: Haben 2002 noch 19 Prozent zumindest wöchentlich Alkohol getrunken, waren es 2014 weniger als die Hälfte (9,4 Prozent).
Allergien: Die Häufigkeit von Asthma, Heuschnupfen und auch Neurodermitis steigt in allen Berichten. Karall: „Viele Kleinkinder haben weniger Kontakt mit Allergenen in der Natur – was einen Schutzeffekt bedeutet –, sind aber andererseits mit mehr potenziell allergieauslösenden Substanzen z. B. in der Ernährung konfrontiert.“
Augen: Rund ein Drittel der Bevölkerung in Westeuropa ist von Kurzsichtigkeit betroffen, bis 2050 soll es die Hälfte der Weltbevölkerung sein. Zu 50 Prozent ist Kurzsichtigkeit vom Lebensstil beeinflusst. Hauptursachen sind zu viel Naharbeit (Lesen, Arbeiten am Handy, PC, Laptop, PC) sowie Lichtmangel in der Kindheit und Jugend. „Kinder sollten täglich mindestens eine Stunde im Freien sein und mindestens zwei Stunden am Tag in die Ferne schauen“, sagt Judith Glazer, Präsidentin der Gesellschaft der Schulärztinnen und Schulärzte Österreichs.
Bewegung: Nur knapp jeder dritte Bursch zwischen 11 und 17 Jahren und nur rund jedes sechste Mädchen bewegen sich, so wie von der WHO empfohlen, täglich 60 Minuten. „Es sollte in jeder zweiten Schulstunden ein kurzes Bewegungsprogramm eingebaut werden, mit Gleichgewichts- und Koordinationsübungen, dafür gibt es gute Konzepte“, betont Glazer.
Ernährung: „Insgesamt zeigt sich ein positives Bild“, heißt es im Kindergesundheitsbericht des Gesundheitsministeriums: „Die Zahl derer, die täglich Obst und Gemüse konsumieren, hat zugenommen.“ (siehe Grafik). Bei den Mädchen ist diese positive Entwicklung deutlich stärker als bei den Burschen. Auf der anderen Seite essen aber immerhin acht Prozent der Mädchen und 13 Prozent der Burschen seltener als zwei Mal pro Woche Gemüse oder Obst. Und der tägliche Konsum von Süßigkeiten „folgt einem ungebrochenen Aufwärtstrend“.
Gewicht: „Der Anteil übergewichtiger Kinder und Jugendlicher hat deutlich zugenommen“, heißt es im jüngsten Kinder- und Jugendgesundheitsbericht. In Ostösterreich ist er deutlich höher als im Westen. „Von den Kindergartenkindern und Volksschülern sind bereits rund ein Viertel übergewichtig, das ist besorgniserregend“, sagt Rosemarie Felder-Puig vom Institut für Gesundheitsförderung und Prävention in Wien.
Impfungen: „Die Österreicher sind zum größten Teil keine Impfgegner, aber nachlässig vor allem bei Auffrischungsimpfungen ihrer Kinder, wie sich etwa bei der Masernimpfung zeigt“, sagt Karall. „Das Kinderimpfprogramm über den Mutter-Kind-Pass mit einem finanziellen Bonus zu koppeln, wäre sehr wünschenswert.“
Karies: 2020 sollten 80 Prozent der Sechsjährigen kariesfrei sein, so das Ziel der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Zwar verbessert sich die Mundgesundheit der Sechsjährigen stetig und derzeit sind rund 55 Prozent kariesfrei – das WHO-Ziel wird Österreich aber nicht mehr erreichen. Während die Karieshäufigkeit bei Kindern im Schulalter allgemein sinkt, nimmt die frühkindliche Karies zu. Glazer ist dennoch zuversichtlich: „Zahnregulierungen gelten heute als schick, und die Gratis-Zahnspange hat insgesamt einen positiven Effekt.“
Körperselbstbild: In Österreich sind weniger Schülerinnen und Schüler mit ihrem Körper zufrieden als in den meisten anderen Ländern – Tendenz steigend. „Es gibt Mädchen, die trauen sich bei der schulärztlichen Untersuchung nicht auf die Waage“, sagt Schulärztin Glazer. „Ich sage ihnen dann, ,dein Gewicht passt, du bist genau richtig‘. Aber sie brauchen diese Bestätigung.“
Rauchen: Der Prozentsatz der jugendlichen Raucher hat sich bei den 11- bis 15-Jährigen innerhalb der vergangenen 20 Jahre von 20,8 auf 11,3 Prozent reduziert. „Wir sind nicht mehr negative Spitzenreiter“, betont Felder-Puig. Andererseits sind in Ländern mit strengen Anti-Raucher-Gesetzen und höheren Tabakpreisen die Rückgänge deutlich höher – wie auch der australische Gesundheitsexperte Michael Moore in einem öffentlichen Brief an Bundeskanzler Sebastian Kurz kürzlich schrieb: „2014 betrug der Prozentsatz der Tabakraucher in Australien bei den Schülern im Alter von 15 Jahren weniger als fünf Prozent. 2016 hatten weniger als ein Prozent der Zwölf- bis 15-Jährigen jemals das Rauchen ausprobiert.“
Stoffwechsel: Daniela Karall: „Vor 20, 30 Jahren haben wir als Kinderärzte den Typ-2-Diabetes einfach abgehakt – er kam ja in unserer Zielgruppe nicht vor. Seit rund zehn Jahren ist das anders: Kinder mit metabolischem Syndrom – starkes Übergewicht, Bluthochdruck, hoher Harnsäure und Problemen der Blutzuckerregulation – gibt es heute immer wieder.“
Morgen: Ein Kinderarztzentrum als Vorbildprojekt
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