Geniale Gedankenausflüge: Wie Tagträume das Gehirn beflügeln
"Alle, die bei Tage träumen, wissen von vielen Dingen, die denen entgehen, die nur den Traum der Nacht kennen."
Schon Edgar Allan Poe wusste um die Bedeutung des Tagtraums. Womöglich diente dem Großmeister der Gruselliteratur die ein oder andere träumerische Gedankenreise als Inspiration für seine weltbekannten Kriminalromane.
Wer sich selbst beim Tagträumen erwischt, muss nicht beunruhigt sein. Schätzungen zufolge gibt sich der Mensch 30 bis 50 Prozent der Wachzeit Fantasien hin. Es sei normal, ab und an abzuschweifen, betonen Autoren um den renommierten israelischen Tagtraum-Forscher Eli Somer in einer unlängst erschienenen Studie.
Doch was genau passiert beim Tagträumen mit uns?
Auch in Leipzig werden Tagträume erforscht. Mark Lauckner vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften erklärt das gedankliche Abschweifen so: "Normalerweise richten wir unsere Aufmerksamkeit auf Dinge oder Abläufe in unserer Umwelt. Manchmal geht sie weg von äußeren Reizen, hin zu inneren Prozessen. Das ist Tagträumen."
Ein Beispiel: Man liest ein Buch und stellt plötzlich fest, man hat eine Seite weitergeblättert, kann sich aber nicht erinnern, worum es ging. In Gedanken war man ganz wo anders. Vom Schwelgen in Erinnerungen, Selbstreflexion oder dem gedanklichen Formulieren der Einkaufsliste lässt sich der Wachtraum nur schwierig abgrenzen.
"Beim Tagtraum werden Inhalte jedenfalls weniger bewusst vor dem inneren Auge erlebt und gesteuert." Im Alltag passiert das häufig dann, wenn der Mensch mit Monotonem oder Routinen beschäftigt oder schlicht unterfordert ist – also nicht sämtliche verfügbare mentale Kapazitäten ausschöpft.
"Manchmal geht unsere Aufmerksamkeit weg von äußeren Reizen, hin zu inneren Prozessen. Das ist Tagträumen."
Hinweis auf Intelligenz?
Das wurde zur These hochstilisiert, muntere Tagträumer seien intelligenter. Eindeutig erwiesen ist das aber nicht, betont Lauckner: "Gehirne von Tagträumern könnten dazu neigen, kognitiven Leerlauf eher mit einem Tagtraum zu füllen." Rückschlüsse auf die Intelligenz lasse das nicht zu.
Wenn der Geist auf Wanderschaft geht, mag das von außen einem Zustand der Abwesenheit ähneln. Tatsächlich passiert im Gehirn allerhand. Dort kann dem Tagtraum aber kein singulärer kognitiver Prozess zugeordnet werden. Ende der 1990er wiesen Forschende erstmals nach, dass selbst das unbeschäftigte Hirn ein stabiles Aktivitätsmuster offenbart – und zwar in einem ganzen Netzwerk von Hirnarealen. Anfang der Nullerjahre taufte der Radiologe Marcus Raichle dieses Orchester von Kortexregionen "default mode network", Basis- oder Ruhemodusnetzwerk. Wobei der Begriff "Ruhemodus" kaum zutreffend ist – das Hirn sortiert in diesem Zustand um, speichert ab, verbindet neu.
Im Zusammenspiel mit dem Ruhemodusnetzwerk spielt der präfrontale Kortex beim Tagträumen eine Rolle. Er ist für das Problemlösen verantwortlich und unterstützt die Kreativität. War Edgar Allan Poe seiner Zeit voraus? Können Tagträume Quelle der Erkenntnis sein?
Kreativ-Schub
"Ob und wie mentales Wegdriften kreative Einsichten ermöglicht, ist nicht abschließend geklärt", sagt Lauckner. Aussagekräftige Belege konnten 2012 die US-Kognitionsforscher Benjamin Baird und Jonathan Schooler liefern. Man bat Probanden, Verwendungsmöglichkeiten für Ziegelsteine aufzulisten. Dann wurden sie Gruppen zugeteilt und unterschiedlich beschäftigt. Einige mussten weitere knifflige Aufgaben bestreiten, andere einen faden Reaktionstest absolvieren – Abschweifen vorprogrammiert. In Phase drei des Experiments wurde die Ziegelstein-Kreativübung wiederholt. Siehe da: Die Tagträumer präsentierten im Vergleich weitaus originellere Ideen.
"Wenn man ein kreatives Problem lösen möchte, ist gedanklicher Abstand hilfreich. In der Psychologie sprechen wir vom Inkubationseffekt", bestätigt Lauckner. "Bei der Problembeschäftigung in Form von Tagträumen passiert genau das." Ob auch bestimmte Tagtraumprozesse dabei helfen, müsse genauer erforscht werden.
Problem-Traum
Der Psychologe Eli Somer forscht intensiv zu Tagträumen – insbesondere zu ihrer "maladaptiven" Ausprägung. Für vier bis sechs Prozent der Menschen wird die innere Welt fesselnder als die Realität. Betroffenen entgleitet die Kontrolle über ihre Imaginationen, sie verlieren sich über Stunden darin, vernachlässigen Aufgaben des Alltags und erleben das als belastend. "Die Notlage kompensieren sie mit noch mehr Tagträumen", sagte Somer kürzlich in einem Interview.
In seiner aktuellen Studie gaben Befragte besonders häufig an, durch Tagträumen unangenehmen Realitäten zu entfliehen, gegen Langeweile anzukämpfen oder sich in der Vorstellung sehnliche Wünsche zu erfüllen. Andere flüchten sich in Tagträume, um sich als mächtig oder dominant zu erleben oder das unbefriedigte Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung zu stillen.
Überbordendes Tagträumen tritt oft mit psychischen Erkrankungen auf, Zwangsstörungen, Angsterkrankungen, Depressionen oder einer posttraumatischen Belastungsstörung. Wer seinen Tagträumen nicht mehr entkommt, sollte sich nicht scheuen, Hilfe zu suchen.
Kommentare