Berührende Lebensgeschichte: Er, seine Demenz – und sie
Besonders unangenehm wurde es für sie, wenn ihr lieber Franz im Restaurant wieder einmal begann, eine Kellnerin anzumachen, nicht verhohlen, sondern für alle hörbar und auf die eher derbe Tour. Oder wenn er ihre Mutter aufforderte, sich nackt auszuziehen und mit ihm ins Bett zu steigen. Oder wenn er wie ein Pubertierender auf dem Flughafen lautstark „Zwergerl“ einem kleinwüchsigen Passagier zurief.
„Er litt unter einer besonderen Form der Demenz“, erzählt Hanna Fiedler im Gespräch mit dem KURIER. „Die Krankheit zerstört den frontalen und den seitlichen Lappen im Gehirn. Dadurch verlieren die Patienten unfreiwillig jegliche Form des Anstands.“ Aber mach’ das mal den Anwesenden in aller Kürze klar, wenn die peinliche Berührtheit den meisten schon klar erkennbar in ihre Gesichter geschrieben ist!
Die Wiener Lern- und Lehrtrainerin kann heute ganz offen über das schwierige Zusammenleben mit ihrem an Demenz erkrankten Mann sprechen. Sie kann auch darüber lachen. Er hat sich im Juni 2018 aus seinem und ihrem Leben verabschiedet, nach 28,5 Ehejahren.
Hanna Fiedler hat dann, nach einer ersten Zeit der Trauer ihre schmerzlichen Erfahrungen, aber auch die schönen Momente mit ihrem Mann in einem kompakten Buch (siehe rechts unten) verarbeitet. Wichtig ist ihr dabei der Hinweis: „Es wird in der Öffentlichkeit fast immer über Menschen, die an Demenz erkrankt sind, und ihre Angehörigen gesprochen – nur ganz selten kommen sie zu Wort.“
Sie konnte ihn nicht mehr lieben
Sie darf das sagen, sie hat alles selbst erlebt. Und sie schreibt und spricht von einer „Achterbahn der Gefühle“, bei der nach einer kurzen Hochphase öfters eine Sturzfahrt ins Bodenlose folgte.
Jedes Mal aufs Neue bedrückend war es für sie, wenn sie der eigene Mann anherrschte, als wäre sie seine persönliche Sklavin. Durchaus präzise in seiner Wortwahl, aber ebenso gefühlskalt. „Das tat mir weh. Ganz ehrlich, die Einsicht, dass dies seiner Krankheit geschuldet war, fehlte mir in solchen Momenten.“
Auch nicht schön war es, als sie sich eingestehen musste, dass sie den geliebten Ehemann aufgrund der Demenz und seines oft seltsamen Verhaltens nicht mehr lieben konnte. Hanna Fiedler erklärt das so: „Er war für mich oft wie ein pubertierender Bub, der bei mir eingezogen war, den ich auch lieb gewonnen hatte und mit dem ich mich über Gemeinsamkeiten freuen konnte. Ich habe aber bemerkt, dass ich die Nähe nicht mehr zulassen konnte. Schon der Gedanke, mit ihm ins Bett zu gehen, war für mich tabu. Ich hätte unweigerlich dabei das Gefühl gehabt, pädophil zu sein.“
Ihr ganzes Leben, sagt Hanna Fiedler dann, war sie ehrlich zu ihrem Mann. Und dann blieb ihr nichts anderes übrig, ihm doch nicht die ganze Wahrheit zu sagen, nach einem langen zähen Ringen mit sich selbst. Nach seinem Schlaganfall wollte sie Schaden für ihn und andere Menschen abwenden: „Er wollte unbedingt wieder mit seinem eigenen Auto fahren. Da habe ich ihm erklärt, dass er zuvor beim ÖAMTC einen Eignungstest machen müsse, wissend, dass er sich auf keinen Fall prüfen lassen würde.“ Die Prüfung war ihre Erfindung, er hat ihr geglaubt. Das Auto wurde verkauft, was ihr und ihrer Mutter später den heftigen Vorwurf eintrug, „dass wir beide ihm das Auto gestohlen hätten“.
Emotionale und finanzielle Hilfe für pflegende Angehörige gebe es viel zu wenig, kritisiert Hanna Fiedler dann. „Psychologische Betreuung gibt es kaum, auch ökonomisch ist es eine echte Katastrophe, und das lebenslang.“
Die Witwe hat daher aus einer ehrlichen Überzeugung heraus begonnen, andere Angehörige kostenlos mit Rat und Tat zu unterstützen (ihre Kontaktdaten siehe unten links). Sie kann weiterhin gut nachvollziehen, was man an der Seite eines an Demenz erkrankten Menschen täglich an Höhen und vor allem Tiefen erleben kann, erleben muss.
Die Krankheit ihres Mannes ging ihr auch selbst extrem nahe, schlug sich auf ihren Magen, der von innen verätzte. Nach einer schweren Operation und einem Krankenhausaufenthalt verlor sie die Hälfte ihres Körpergewichts, alles in allem mehr als 60 Kilogramm. Kaum zu glauben, wenn man sie heute sieht.
„Ich liebe dich, aber müde“
Gab es in all der Zeit auch Tröstliches? „Ja, das gab es“, erklärt Hanna Fiedler auf diese Frage. Aufgrund ihrer Krankheit musste ihr Mann in das Heim der Caritas Socialis auf dem Rennweg. Dort gibt es eine eigene Abteilung für erkrankte Menschen wie ihren Mann. Und die hat dem Ehepaar sehr geholfen.
„Am Anfang war es für mich gar nicht so einfach, zu akzeptieren, dass diese Einrichtung für ihn zu seinem neuen Zuhause geworden war“, sagt die Angehörige heute. „Aber dann habe ich begonnen, mich für ihn zu freuen, auch, weil er sich dort sicher und geborgen fühlte. Ich habe ihn weiterhin täglich besucht, und wir konnten noch viele schöne Stunden miteinander verbringen.“
Wie viel Toleranz Angehörigen abverlangt wird, lässt sich eindrucksvoll in ihrem Buch nachlesen. Der Zeitung erzählt sie: „Einmal kam ich auf seine Station, und man teilte mir behutsam mit, dass mein Mann mit einem anderen Mann im Bett liegt.“ Auf die Frage der dort Beschäftigten, ob man die beiden Männer voneinander trennen solle, bat sie, davon abzulassen: „Die Hauptsache ist doch, dass es ihnen gut geht.“
Die letzten Stunden mit ihrem Mann hat Hanna Fiedler jedenfalls in guter Erinnerung. Genau gemerkt hat sie sich auch den letzten ganzen zusammenhängenden Satz, den ihr ihr Mann auf der Station anvertraut hat. Man findet ihn auch in ihrem Buch: „Ich liebe dich, aber müde.“
Zum Nachdenken
Hanna Fiedler ist Lern- und Lehrtrainerin sowie Buchautorin.
Auf der Basis eigener Erfahrungen hilft sie kostenlos Angehörigen Demenzerkrankter: www.und-wer-hilft-uns.at
Direkter Draht: 0650 /323 81 38
Zum Nachlesen
„Unser Leben zu dritt. Die Demenz, er und ich“, lautet der Titel des Buches von Hanna Fiedler über das Leben mit der Krankheit. Es ist bei MyMorawa erschienen.
ISBN: 9783990849088,
135 Seiten, 14,40 Euro
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