Kinder brauchen Routine: "Man kann einen Wecker als Schulglocke nehmen"
Aga Trnka-Kwiecinski unterrichtet Lehrer darin, mit Konflikten in der Klasse umzugehen. Sie lehrt an der Pädagogischen Hochschule Wien und an der Donau-Universität Krems "Provokationspädagogik". Jetzt sagt sie den Eltern, was die Kinder jetzt zum Lernen brauchen.
KURIER: Wie kann man den Kindern ohne Schule etwas Normalität geben?
Aga Trnka-Kwiecinski: Routinen sind dort besonders wichtig, wo sie plötzlich und fremdbestimmt Beeinträchtigungen mit sich bringen. Ein gewagter Vergleich: Menschen, die ins Gefängnis kommen, brauchen diese Routine des Alltags, um mit der Situation des Eingesperrtseins fertig zu werden.
Wie organisiert man den Tag?
Es ist gut, wenn man eine klare Struktur schafft. Aufstehen, Frühstück, Schulbeginn - die Uhrzeit kann variieren. Man kann sogar einen Wecker läuten lassen statt der Schulglocke, um es klar zu machen. Dann wird gelernt, dann ist Pause, nochmals lernen. Manche können das selbstständiger, andere Kinder brauchen einen echten Stundenplan. Aber es geht nicht nur um den Vormittag und das Lernen. Jetzt ist ein Überblick notwendig. Am besten macht man einen Familienplan, in den auch Hausarbeiten wie Kochen, Waschen und ähnliches eingetragen werden. Und auch die Aufteilung. Wichtig ist, Gelegenheiten zum Reden zu schaffen, etwa eine gemeinsame Jause am Nachmittag. Da kann man gemeinsam Organisatorisches besprechen, aber auch über die Corona-Situation reden und wie es einem damit geht. Das ist am Nachmittag besser als am Abend vor dem Schlafengehen.
Wie organisiert man den Tag für Volksschüler?
Volksschüler genießen meist die Routine der Schule. Eltern glauben, dass laut Stundenplan jeweils 50 Minuten konzentriert am Stück an gearbeitet wird, aber das ist vielleicht in der vierten Klasse ansatzweise so, aber sicher nicht davor. Da sprechen Lehrerinnen eher von zehn bis 15 Minuten Einheiten, in denen die Konzentration gebündelt ist. Dann braucht es wieder einen anderen Impuls, bevor wieder konzentriert gearbeitet werden kann. Arbeitspakete für einen Tag umfassen für Volksschulkinder meist einen Aufwand von einer Nettostunde. Korrekturen werden gemacht, wie es üblicherweise mit der Lehrerin vereinbart ist. Für die restliche "Schul"-Zeit kann man mit den Kindern auch spielerisches Lernen etwa auf einer Lern-App oder Rätsel einteilen.
Was ändert sich bei den Größeren?
In der Unterstufe können Kinder sehr wohl bereits Inhalte verarbeiten, allerdings ist Lernen in der Gruppe ganz anders allein zu Hause. Auch hier helfen Routinen. Lernen, gemeinsame Pause, zweiter Durchgang, fertig. Dann können Kinder zeigen, was sie gemacht haben, verbessern muss nicht in dem Ausmaß sein, wie bei Volksschulkindern. Verbessern allerdings so, dass kein Tadel oder gar Enttäuschung damit verbunden sind. Wahrnehmung der Leistung ist wichtiger als Korrektur. In der Oberstufe sind hoffentlich genug Motivation und Selbstständigkeit vorhanden. Wenn hier Unwille spürbar ist, dann kann es daran liegen, dass vielleicht Ängste vor der Situation da sind oder aber es gibt ein Thema, das unabhängig von Corona da war, nur jetzt besser sichtbar wird.
Jetzt kann jeder in seinem Tempo lernen, das ist eigentlich ein Vorteil, oder?
Das kann vor allem für jene Lerntypen belastend sein, die den unmittelbaren Austausch zum erlernten Stoff in der Stunde brauchen, die gerne Rückfragen stellen, rege mitarbeiten. Wer eher zuhört und sich Notizen macht, lieber nachliest und in Stille lernt, wird mit der neuen Lernsituation leichter umgehen können. Beobachten Sie Ihr Kind und versuchen Sie sich ein Bild zu machen, mit welchen Sinnen das Kind bevorzugt welchen Stoff lernt. Das kann viel Frustration verhindern.
Was tun, wenn die Lehrer wenig zu tun gegeben haben. Was soll ich als Elternteil dazu tun?
In den seltensten Fällen geben Lehrer zu wenig auf. Denn sie messen sich meist daran, wie viel Stoff sie unterbringen. In sämtlichen Vorgaben der Bildungsdirektionen wird darauf hingewiesen, dass Kulanz zu leben ist. Die Schüler sind im Ausnahmezustand, da soll nicht auch noch Überforderung durch Lernstoff erzeugt werden. Wenn wenig zu tun ist, und das Kind wenig ausgelastet ist, dann ist jetzt die Zeit, stressfrei etwas zu tun. Oder Bücher zu lesen. Oder etwas vorzubereiten.
Ist jetzt eine Gelegenheit, in Ruhe Mängel auszugleichen? Wieviel sollen Eltern selbst vorgeben?
Das ist eine schwierige Frage, denn Nachhilfe im klassischen Sinn wird nicht funktionieren, wenn man sich an die aktuellen Vorgaben hält. Und dann bleibt das Lernen im Familienverband, das kann durchaus konfliktträchtig sein. Wenn der Lerndrill ausbricht, weil mir das Kind jetzt nicht auskommt, zerstöre ich ein vielleicht letztes Interesse für ein Fach, torpediere meine Beziehung zum Kind und meist zeugen die nicht verbesserten schulischen Leistungen davon, dass das alles auch noch vergeblich war.
Unter Druck zu lernen ist einfach nicht fein. Für Erwachsene übrigens genauso wenig. Oder räumen wir etwa den Keller aus, was wir schon seit Jahren verschieben, nur weil jetzt prinzipiell die Zeit dafür da ist? Und wenn wir dazu genötigt werden? Spielerisch geht es unter Umständen. Also beispielsweise: Lies ein Buch, dann schauen wir uns den Film dazu an. Mit den Älteren kann man mal Serien gemeinsam schauen - auch auf Englisch - und darüber reden. Nutzen Sie lieber die Zeit, um eine neue Seite aneinander kennen zu lernen. Das verbindet deutlich mehr als ein Satz zusätzliche Englisch-Vokabeln.
Wie bekomme ich mein Kind zum Lernen, wenn es mit mir nur spielen will?
Das ist das klassische Problem der Doppelrolle. Eltern sein und dann Lernumgebung schaffen (müssen). Zuerst sitzen wir als Familie beim Frühstück. Dann bin ich als Frau X oder Herr Y im Homeoffice und das Kind ist als Schüler in der Lernsituation. Danach trifft man sich wieder als Familie. Was hier helfen kann, ist ein bisschen Theatralik. Das Arbeitszimmer heißt jetzt Schule oder Firma. Wenn am Küchentisch gelernt wird, kann ich Schreibtischlampen aufstellen, Schreibunterlagen herrichten und so Büroatmosphäre herstellen.
Was tun, wenn das Kind nicht auf mich hört?
Wenn Kinder nicht mitmachen, kann das viele Gründe haben: Überforderung (mit den Aufgaben, der Situation allgemein, der Enge in der Wohnsituation, dem Verlust an Sozialkontakten, Ängste, etc.) oder Unwille. Was wir bedenken sollten: Lehrer gehen in die Schule, um dort zu unterrichten, Lehrpläne zu erfüllen, guten Unterricht zu gestalten. Kinder wollen in der Schule vor allem Sozialkontakte pflegen. Das Lernen passiert meist eher nebenbei. Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder bestmöglich lernen. Diese grundlegend unterschiedliche Motivation führt oft zu Frustration. Die Freunde aus der Schule fehlen ihnen jetzt.
Soll es Strafen geben, wenn ja welche? Jetzt gibt es ja kein Handyverbot.
Verbote sind meist ein Zeichen von Hilflosigkeit. Vereinbarungen, mit denen alle leben können, Verträge schließen, ist deutlich hilfreicher. Wie freudig nehmen Erwachsene Verbote auf? Und welche Konsequenzen hat es, wenn Vereinbarungen nicht eingehalten werden - kann gemeinsam besprochen werden. Und beide Seiten müssen sich daran halten. Vielleicht kann Geld, das jetzt nicht ausgegeben werden kann für eine besondere Anschaffung gespart werden, vielleicht gibt es eine Vereinbarung für besondere Freizeitaktivitäten, sobald die Lage wieder übersichtlich ist, lassen Sie Ihre Kinder Vorschläge machen. Manchmal kommt man richtig ins Staunen, wenn Kinder statt Strafen über Konsequenzen nachdenken. Und übrigens tendieren vor allem junge Kinder dazu, sich selbst härtere "Strafen" aufzuerlegen, als die Eltern das tun würden. Hilfreich ist: Was kann bei etwaigen Fehlverhalten oder nicht eingehaltenen Vereinbarungen für die Gemeinschaft beigetragen werden? Kuchen backen, Wäsche erledigen - etwas Gutes für alle tun, von dem man selbst durchaus auch profitieren kann. Das holt nämlich alle wieder zusammen, schafft Zusammengehörigkeit und gibt ein gutes Gefühl. Strafen sind meist wertlos, zumindest langfristig, weil sie Kommunikation verhindern.
Wie soll ich mich im Homeoffice auf die Arbeit konzentrieren können?
Es ist menschlich, mal ein Vormittags- oder Nachmittagskino auszurufen, um eine gute Stunde am Stück arbeiten zu können. Wir sind alle gefordert, gerade in solchen Situationen. Und da darf auch ein vereinbarter Ausbruch aus sonst wichtigen Regeln sein.
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