Viel Migration: Warum Wien trotzdem liberaler wählt
Mit Spannung wurde am Wahlabend das Wien-Ergebnis erwartet. Kann die SPÖ ihre Vormachtstellung in der Bundeshauptstadt halten? Die Antwort fiel klar aus: Ja. Die Wiener Roten unter Bürgermeister Michael Ludwig gewannen bei der Nationalratswahl sogar 2,78 Prozent der Stimmen dazu.
ÖVP und FPÖ reüssierten dafür wesentlich schwächer als im Bundestrend. Die Neos konnten mehr Wählerinnen und Wähler für sich gewinnen als im Rest Österreichs, ebenso die Grünen, diese verloren im Gegensatz zu 2019 trotzdem massiv.
7 Gründe, warum Wien wählt, wie es wählt
1. Der hohe Migrationsanteil
Es mag paradox klingen, aber der hohe Migrationsanteil hat dazu beigetragen, dass die Wienerinnen und Wiener liberaler (und weniger FPÖ) gewählt haben als der Rest des Landes: In der Forschung sei gut belegt, dass bei Menschen, die keinen Kontakt mit fremden Kulturen haben, die Skepsis steigt, sagt Soziologe Kenan Güngör zum KURIER. Menschen am Land würden oft durch Politik und Medien nur die negativen Seiten kennenlernen. In der Stadt könne man aber auch positive Erfahrungen machen, die Bevölkerung habe darum ein differenzierteres Bild.
Zudem sei die Bevölkerung in Städten jünger, bildungsaffiner und kosmopolitischer. Auch ein Faktor: In Wien gibt es mehr Menschen mit Migrationshintergrund, die wählen dürfen – viele davon entscheiden sich nicht für die FPÖ.
2. Wien ist gern anders
In Wahlkampfzeiten ist die Bundeshauptstadt ein beliebter Reibebaum. Lebt man selbst dort, sind nicht alle Vorwürfe nachvollziehbar. Bei allen Problemen darf man schließlich nicht vergessen, dass Wien mehrfach zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt wurde.
Die seit Jahren funktionierende FPÖ-Strategie "Sie sind gegen ihn, weil er für euch ist", lässt sich auch auf Wien umlegen. Wenn alle gegen Wien sind, rücken die Bewohner enger mit der amtierenden Stadtregierung zusammen. Wien ist anders, ist mehr als ein Spruch, es ist eine Mentalität.
3. Die Wiener SPÖ ist eine Wahlkampfmaschine
Laut Wählerstromanalyse musste die SPÖ bundesweit 180.000 (18 Prozent) Stimmen an die Nichtwähler abgeben. In Wien dürfte die Mobilisierung besser geklappt haben: 3.500 Aktivistinnen und Aktivisten waren unterwegs. Das Ziel von 20.000 Hausbesuchen wurde weit übertroffen: Es wurden circa 30.000, hieß es auf Anfrage. Zudem wurden 10.000 Telefonate geführt und es gab 1.000 Wahlkampfveranstaltungen.
4. Ruhige Opposition
Bürgermeister Ludwig hat bis auf FPÖ-Chef Dominik Nepp nur wenige laute Widersacher auf Stadtebene. Die ÖVP rund um Parteichef Karl Mahrer hat die Angriffe zurückgefahren, um im Spiel als möglicher Koalitionspartner zu bleiben. Die Grünen tun sich mit der Doppelspitze Judith Pühringer und Peter Kraus keinen Gefallen, weil es viel schwerer ist, zwei Personen in der Öffentlichkeit zu positionieren.
5. Die SPÖ hat in Wien gleich zwei loyale Koalitionspartner
Die sogenannte Punschkrapferl-Koalition in Wien bestehend aus SPÖ und Neos ist bisher ohne große Konflikte ausgekommen. Der pinke Juniorpartner bekommt bei den Themen Migration und Bildung viel Platz, dafür wird bei Transparenz ab und an das Auge zugedrückt.
Der zweite Koalitionspartner ist inoffiziell, dafür umso mächtiger: Der schwarze Wiener Wirtschaftskammerpräsident Walter Ruck ist ein enger Vertrauter Ludwigs und macht oft gemeinsame Sache mit dem Stadtchef. Angriffe gegen die Wiener SPÖ gibt es nie.
6. Machtfaktor Ludwig und Bures
Als Wiener Bürgermeister hat Ludwig schon allein aufgrund seines Amtes eine hohe Medienpräsenz. Während der Coronakrise positionierte er sich als Mann der Sicherheit und der Stabilität - etwas, das ihm in der Zeit der multiplen Krisen nach wie vor Pluspunkte einbringt.
Wiens Spitzenkandidatin Doris Bures hat als Zweite Nationalratspräsidentin viel Erfahrung und eine hohe Bekanntheit. Als Teil der "Liesinger Partie" hat ihr Wort innerhalb der zerstrittenen SPÖ viel Gewicht. Selbst ein an Parteichef Andres Babler geleaktes E-Mail zu dessen Wahlprogramm schmälerte die Sympathien für sie höchstens kurzfristig.
7. Die Bierpartei lieferte nicht ab, SPÖ profitierte von Taktik-Wählern
Im Vorfeld war nicht klar, wie viele rote Wählerinnen und Wähler die Bierpartei rund um Dominik Wlazny an sich ziehen wird. Ein verhunzter Wahlkampf zeigte: nicht viele. Die Roten taten ihr übriges, um auf Wlaznys Schwächen hinzuweisen. Viele Grünwähler wählten aus Taktikgründen die SPÖ, um die FPÖ in der Regierung zu verhindern: In der Bundeshauptstadt war das Wechsel-Potenzial besonders hoch, da die Grünen hier traditionell stark sind.
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