Wie der Missbrauchsskandal im Kindergarten vertuscht wurde
Fast zwei Monate ist es her, dass schwere Missbrauchsvorwürfe gegen einen Pädagogen an einem Penzinger Kindergarten publik wurden. Nun liegt der mit Spannung erwartete Untersuchungsbericht der Kinder- und Jugendanwaltschaft zu der Causa vor.
Er hat es in sich: Auf 52 Seiten zeichnet er ein düsteres Bild über die Vorgänge am Kindergarten-Standort selbst, aber auch über die Zustände in der für die Kindergärten zuständigen Behörde MA 10. Sie ließ die betroffenen Eltern über Jahre hinweg buchstäblich anrennen, obwohl es längst schon Hinweise auf Missbrauchsverdacht gab.
Bereits ab Ende Juni 2020 – also Monate vor der Versetzung und der Anzeige des betreffenden Pädagogen – beobachten zwölf Eltern auffällige Verhaltensänderungen bei ihren Kindern: Albträume, Bettnässen oder die Weigerung, in den Kindergarten zu gehen. In einem Fall erzählen sie davon auch der Leitung. Diese weist darauf hin, dass dies normal sei und vorkommen könne.
Erst im März 2021 wird der Pädagoge vom Dienst abgezogen und bei der Staatsanwaltschaft angezeigt, nachdem sein Name von Eltern im Zusammenhang mit dem Verdacht auf schweren sexuellen Missbrauch genannt wurde.
Eltern nicht informiert
Immer wieder drängen nun die Mutter des betroffenen Kindes und die beigezogene Beratungsstelle die Kindergartenleitung darauf, auch die anderen Eltern zu informieren. Dies geschieht aber nicht.
Vielmehr werden die Eltern vom Personal über den Verbleib des verdächtigten Pädagogen belogen. Erst heißt es, er sei auf Urlaub, dann wird behauptet, er sei krank. Unter den Kindern verbreitet sich gar das Gerücht, er sei an Corona verstorben.
Im Laufe der kommenden Monate berichten weitere Eltern der Kindergartenleitung über Auffälligkeiten bei ihren Kindern. Die Leitung sieht die Ursache aber im privaten Bereich. Den Missbrauchsverdacht gegen den Pädagogen verschweigt sie.
Und so dauert es bis zum Mai dieses Jahres, bis im Zuge eines von Eltern selbst organisierten Info-Abends alle Eltern des Standorts von den Vorfällen erfahren. Auch Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (Neos) wird erst zu diesem Zeitpunkt von seiner Behörde informiert.
Erst jetzt beginnt die Aufarbeitung der Causa abseits der strafrechtlichen Ermittlungen: Die Kindergarten- und die Regionalleiterin werden abgezogen, auch die Leiterin der MA 10 verliert ihren Job.
Der Bericht legt aber auch massive Schwächen in der Organisation der Wiener Kindergärten offen: „Die hierarchischen Strukturen [...] erscheinen kompliziert, träge und nicht förderlich, um in der notwendigen Geschwindigkeit Entscheidungen zu treffen.“ Weiters ist von einer „problematischen Unternehmenskultur“ die Rede, von mangelhafter Fehlerkultur und autoritärem Führungsstil.
Ombudsstelle
Doch wie geht es jetzt weiter? Wiederkehr kündigt eine unabhängige Ombudsstelle bei der MA 10 an, an die sich Eltern wie Pädagogen wenden können. Für Mitarbeiter wird ein Instrument entwickelt, mit dem sie Missstände (auch anonym) melden können. Mitarbeiter werden in Sachen Kinderschutz geschult, weiters wird das Kinderschutzkonzept der Stadt weiterentwickelt. Dazu gehören auch klare und einheitliche Regeln, ab wann Eltern bei Missbrauchsverdacht informiert werden müssen.
Laut Büro Wiederkehr sollte dies spätestens ab Beginn strafrechtlicher Ermittlungen erfolgen.
Ermittlungen dauern an
Diese sind im konkreten Fall noch nicht abgeschlossen, heißt es bei der Staatsanwaltschaft Wien. Ermittelt werde noch gegen einen zweiten Pädagogen, hier wegen möglicherweise strafrechtlich relevanter Erziehungsmethoden.
Ende Juni 2020
Eine Familie berichtet der Kindergartenleitung, ihr Kind würde häufig schreiend in der Nacht aufwachen und wolle nicht in seine Kindergartengruppe gehen, wenn die Hauptpädagogin nicht anwesend ist. Das sei normal, entgegnet die Leiterin
März 2021
Eltern schildern den Verdacht eines schweren sexuellen Missbrauchs. Der betreffende Pädagoge wird vom Dienst mit Kindern abgezogen und angezeigt
11. Mai 2022
Erst nun – im Rahmen eines von Eltern organisierten Info-Abends – erfahren auch die anderen Eltern von dem Missbrauchsverdacht
16. Mai 2022
Die Causa wird medial publik
19. Mai 2022
Bei einem von der MA 10 organisierten Elternabend gelingt es der Behörde nicht, die Eltern zu beruhigen
20. Mai 2022
Die Kindergartenleitung wird versetzt, ebenso die regionale Betriebsleitung
7. Juni 2022
Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr enthebt die Leiterin der MA 10 ihrer Funktion. Begründet wird die Maßnahme mit Auffassungsunterschieden im Krisenmanagement
Und auch am Standort selbst laufe längst noch nicht alles nach Wunsch der Eltern, schildert Elternvertreterin Katharina Kohlbach. „Wir Eltern müssen immer noch sehr lästig sein, damit etwas passiert“, sagt sie zum KURIER. „Die Mediation läuft schleppend an. Für den Herbst gibt es noch keine Termine, auch nicht für die Elternabende.“ Mittlerweile habe sich die Zahl der Kinder in ihrer Gruppe halbiert, auch von den Pädagogen seien etliche im Krankenstand.
Skeptisch bewertet den Bericht Anwalt Johannes Bügler, der Eltern mehrer betroffener Kinder vertritt: Dass vertuscht und verheimlicht worden sei, „wissen wir seit Mai“.
Angesichts der tiefgreifenden Strukturmängel bei der MA 10 gerät nun auch Wiederkehrs Vorgänger Jürgen Czernohorszky (SPÖ) ins Visier der ÖVP. Dieser wollte sich am Donnerstag aber nicht zu der Causa äußern.
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