Stromschlag auf Waggon: Hochgefährliche Mutproben für Social-Media-Klicks
Das Phänomen ist kein neues, die Anreize allerdings schon: die Rede ist von "Bahn-Surfern". Dabei handelt es sich meistens um Jugendliche, die auf Waggons von U-, S- und Straßenbahnen klettern, um gefährliche Mutproben zu absolvieren. Einerseits, um sich selbst etwas zu beweisen, andererseits um Nutzern im Internet ihre Coolness zu präsentieren, wie Experten erklären.
So geschehen wohl auch am vergangenen Samstag in Wien. Wie die Polizei am Montag bekannt gab, soll ein 17-Jähriger vermutlich auf einem abgestellten Waggon versucht haben zu „surfen“. Das Ergebnis der vermeintlichen „Mutprobe“ am Wiener Bahnhof Praterstern: schwerste Verbrennungen am gesamten Körper durch einen Stromschlag von 15.000 Volt. Die Polizei sucht weiter nach jenen Jugendlichen, die den Vorfall vermutlich beobachtet haben dürften. Aber keine Hilfe geleistet haben.
Der Fall ist nicht der einzige: Erst kurz vor Weihnachten kletterte ein 14-Jähriger auf Waggons in Wiener Neustadt und wurde dabei tödlich verletzt.
Neue Dynamik
Doch was sind die Anreize, auf einen Waggon zu klettern und sein Leben in Gefahr zu bringen? „Dahinter steckt Nervenkitzel, weil die Jugendlichen Grenzen austesten wollen, die sie vielleicht im Alltag nicht finden können“, erklärt die Leiterin der Notrufnummer für Jugendliche bei „Rat auf Draht“, Birgit Satke. Jedoch würden soziale Netzwerke wie TikTok eine „neue Dynamik“ mit sich bringen. Denn dort wollen die „Bahn-Surfer“ anderen imponieren und Aufmerksamkeit bei den Nutzern generieren.
Auch bei anderen TikTok-Challenges bringen sich Jugendliche in Gefahr. Die Liste der Trends hat es in sich: „Blackout Challenge“ (dabei würgen sich Teenager selbst, um bewusstlos zu werden), Münzen aufs Bahngleis legen, Plastiksackerl über den Kopf ziehen oder in Waschmittel-Pods beißen. „Die Jugendlichen – meistens Burschen – wollen sich spüren, testen Grenzen aus und erhoffen sich dabei im Bekanntenkreis anerkannt zu werden. Die meisten sind jedoch einfach 'likegeil'“, erklärt Barbara Buchegger von der Initiative „Safer Initiative“.
Ob für sich oder für andere, als Erklärung für dieses Phänomen sieht Christian Holzhacker vom Verein Wiener Jugendzentren „das Bild von Männlichkeit, das sich stark über körperliche Aspekte definiert. Diese muss unter Beweis gestellt werden, um in der Gruppenhierarchie aufzusteigen“. Mit der Gruppendynamik wird ein „zurück“ schwierig gemacht, selbst wenn die Gefahr erkannt wird, erklärt der pädagogische Bereichsleiter des Vereins.
TikTok-Szene in Wien
Doch zurück zu den Bahnsurfern: Derzeit beobachtet die Wiener Polizei keine Steigerung solcher Fälle. Zuletzt, der KURIER berichtete, evaluierte die Polizei jedoch eine „TikTok-Szene“ von Jugendlichen, die für Herausforderungen („Challenges“) Gewalt-Videos und Schlägereien für Klicks auf der Videoplattform drehen. Auch Bahn-Surfer zählen zu dieser Szene.
Keine Häufung von „Stromunfällen“ beobachten die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB). Auch wenn abgestellte Wagons mit Zäunen, Videoüberwachung und von Securitys gesichert werden, kommen solche Vorfälle jedoch „immer wieder vor“. „Besonders häufig begeben sich Jugendliche durch unüberlegtes Handeln und falsch verstandene Mutproben in Lebensgefahr“, so ÖBB-Sprecher Daniel Pinka.
Waggons sind kein Abenteuerspielplatz
Generell gilt: Abstand zu Bahnstromleitungen halten. Die Leitung muss nicht berührt werden, um einen Stromschlag zu erleiden. „Der Strom kann in Form eines Lichtbogens auch über eine Distanz von mehreren Metern lebensgefährlich sein“, erklärt Pinka. „Waggons sind kein Abenteuerspielplatz. Eigenverantwortung und Aufmerksamkeit ist angebracht“, appelliert das Unternehmen, welches im Rahmen des Projekts „Pass auf dich auf“ über Gefahren rund um Bahnanlagen für Jugendliche informiert.
Ähnliches ist auch von den Wiener Linien zu hören, die auf Prävention und Aufklärung setzen und seit Jahren Workshops in Schulen gemeinsam mit der Bildungsdirektion und Polizei halten. „Kein TikTok-Video oder Selfie der Welt ist es wert, auf eine U-Bahn oder Straßenbahn zu klettern“, sagt Unternehmenssprecherin Katharina Steinwendtner.
Für Eltern sei es wichtig, die Risikokompetenz der Kinder und Jugendlichen zu stärken: „Sie müssen lernen, Gefahren ohne ihre Eltern einzuschätzen. Das lässt sich üben, wenn nicht alle potenziellen Gefahren sofort für sie beseitigt werden“, erläutert Pädagoge Holzhacker. Risikoabwägung kann auch in Jugendzentren geübt werden: „Es gibt viele Jugendliche, die über solche Themen mit Erwachsenen reden wollen, vielleicht nur nicht mit ihren Eltern. Wir stehen ihnen wie eine Art ´alternative Erwachsene´ zur Seite“, sagt Holzhacker.
Neben dem tödlich verunglückten 14-Jährigen am Bahnhof Wiener Neustadt, kam es laut ÖBB im Vorjahr zu zwei weiteren Unfällen bei den Gleisanlagen in Österreich. Dabei wurden zwei Personen schwer verletzt. Seit 2012 starben elf Personen bei insgesamt 23 Vorfällen, zehn weitere wurden schwer verletzt.
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