Porträt einer 100-Jährigen: Nicht ganz einfache 100 Jahre
"Eigentlich sind wir alle Niederösterreicher“, sagt Charlotte Rauschmayer. Bei dem Satz huscht ein Lächeln über die Lippen der 100-Jährigen. Tatsächlich wurde Wien erst vor 100 Jahren zu einem Bundesland, als es sich von Niederösterreich loslöste. Somit ist Charlotte Rauschmayer genau so alt wie Wien – oder umgekehrt.
Geboren wurde sie in Krems. Ihr gesamtes Leben verbrachte Rauschmayer aber in Wien. Ihre Großmutter kochte in einer hiesigen Kantine, daher zog die Familie um das Jahr 1930 hierher. „Wir zogen in die Wichtelgasse in den 17. Bezirk“, erzählt sie.
Welche Erinnerungen von damals sind geblieben? Man war sparsam, in jeder Hinsicht: Im Haushalt gab es drei Kinder. Man aß fast alles mit
Einbrenn, denn die Kombination aus Fett und Mehl machte satt. Nur der Vater bekam jeden Tag Fleisch. Die Männer arbeiteten, Frauen blieben zu Hause. Am Freitag gab es Süßspeisen zu essen. „Gebackene Mäuse“, erinnert sich Rauschmayer.
Über den Zweiten Weltkrieg will Rauschmayer nicht sprechen. Eine harte Zeit. Aber in Erinnerung geblieben sind ihr die Pompfinebrer, die Bestatter mit ihren Kutschen – etwas durch und durch Wienerisches. „Als Kind bestaunte ich die großen dunklen Pferde der Leichenkutschen. Wenn sie vorbeifuhren, blieb man stehen und machte ein Kreuz“, sagt Rauschmayer.
Dunkle Donau
Die Donau, erinnert sich die 100-Jährige, war auch schon damals nicht wirklich blau. Sie sei eher grün, gelb oder braun gewesen: „Daran konnte auch der Donauwalzer ‚An der schönen blauen Donau‘ von Strauss nichts ändern“. Und der Geruch in der Stadt sei unangenehm gewesen. Früher war eben nicht alles besser. „Es roch nicht gut, es gab Pferde in der Stadt, die Straßenreinigung funktionierte nicht so wie heute und man heizte mit allen erdenklichen Sachen.“
Eine Anekdote fällt Rauschmayer auch zu den Straßenbahnen ein. Dabei kann sie sich das Lachen wieder nicht verkneifen: „Das waren damals offene Wägen, die Menschen sind rauf und runter gesprungen. Und es gab eine Vorrichtung, die war wie eine Schaufel. Sie konnte Menschen noch auffangen, bevor sie von der Bahn flogen“, sagt sie.
Traum von der Bühne
Rauschmayer selbst wollte eigentlich Schauspielerin werden. Und sie kam diesem Traum auch ziemlich nahe. Sie besuchte deshalb das Max-Reinhardt-Seminar. „Unter 400 Personen schaffte ich die Aufnahmeprüfung“, sagt Rauschmayer, während sie ihre Hände übereinanderlegt. Arbeit fand sie später jedoch ganz woanders: in der Stahlbranche. „Ich verdiente gut, aber genug war es nie.“
Kahlenberger Ruhm
In der Freizeit waren ihr die Spaziergänge auf dem Schafberg am liebsten. „Jeden Sonntag ging außerdem jeder, der was auf sich hielt, auf den Kahlenberg spazieren. Das war das Wichtigste in Wien“, sagt Rauschmayer. Man kehrte beim Döblinger Heurigen für ein Huhn ein.
Und an den Samstagen ging man in die Stadt bummeln. „Ich kannte jedes Stoffgeschäft, denn ich habe selbst genäht, was ich mir nicht leisten konnte“, sagt sie. Ihr Lieblingsgeschäft war das Jonak im Trattnerhof. Noch heute hat die Familie Jonak fünf Geschäfte in der Stadt.
Bei ihren Spaziergängen verweilte Rauschmayer auch gerne im Stadtpark. „Dort konnte man sich damals Sessel für Geld leihen, Bänke so wie heute gab es damals noch nicht“, sagt sie.
Und: Zu später Stunde sei Wien damals wie aus-gestorben gewesen. „Das kann man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen“. Die Kärntner Straße, die galt seinerzeit als gefährliches Pflaster des Rotlichtmilieus.
Heute lebt Rauschmayer im Pensionistenheim neben dem Türkenschanzpark in Währing. Wien ist und bleibt für sie ihr zu Hause.
„Auch wenn es mit den Wienern nicht immer einfach ist.“
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