Parteiwechsel: Der kurze Ruhm des Überläufers
Er gilt als einer der größten Politiker des 20. Jahrhunderts. Mit parteipolitischer Prinzipientreue nahm er es aber nicht allzu genau: Wohl um seinem Hinterbänkler-Dasein zu entkommen, wechselte der junge Unterhaus-Abgeordnete Winston Churchill 1904 von den Konservativen zu den Liberalen. Zwei Jahrzehnte später kehrte der spätere Premier allerdings wieder zurück zu den Tories.
Es ist ungewiss, ob der Wiener Gemeinderat Wolfgang Kieslich an den legendären britischen Staatsmann dachte, als er sich kürzlich entschloss, nach 25 Jahren die ÖVP wegen ihrer Corona-Politik zu verlassen, um (wie berichtet) bei der FPÖ Unterschlupf zu finden.
Fakt ist jedenfalls, dass politisches Überläufertum im Wiener Rathaus keine Seltenheit ist. Fakt ist auch: Die Motive mögen unterschiedlich sein, das Ergebnis ist allerdings meist dasselbe. So gut wie alle Partei-Wechsler scheitern kläglich, kaum einer übersteht das Ende der jeweiligen Legislaturperiode.
„Meist bleiben ihnen nur die wenigen Minuten des Ruhms, wenn sie ihr neuer Parteichef bei einer Pressekonferenz wie eine Trophäe präsentiert“, formuliert es der Politikberater Thomas Hofer.
Hier liege schon die Wurzel für das baldige Scheitern: „Meist werden Überläufer von ihrer neuen Partei nur dafür verwendet, um ihrer alten politischen Heimat eines auszuwischen.“
Netzwerke fehlen
Was es auch nicht leichter macht: Ohne Netzwerke, die sich aus langjähriger Mitgliedschaft in Partei und Vorfeldorganisationen ergeben, sei es extrem schwer, sich zwischen den neuen Gesinnungsgenossen zu integrieren. „Sie stehen daher bald relativ alleine da.“ Letzteres hätten die Überläufer mit Quereinsteigern gemein.
Ursula Stenzel
Die bekannte ORF-Journalistin wurde 1996 von der ÖVP in die Politik geholt. Bis 2005 war sie EU-Abgeordnete, ehe sie Bezirksvorsteherin in der Inneren Stadt wurde. Nach inneren Zerwürfnissen trat sie bei der Wahl 2015 für die FPÖ an, verlor aber den Bezirksvorsteher-Posten an
die ÖVP. Stenzel wurde dafür nichtamtsführende Stadträtin. 2020 ließ sie sich überreden, noch einmal bei der Bezirkswahl für die FPÖ anzutreten, fuhr aber schwere Verluste ein. Daraufhin zog sie sich aus der Politik zurück
Karl Baron
Der Ex-Rennfahrer und Transportunternehmer war von 2010 bis 2019 FPÖ-Gemeinderat. Im Zuge der Ibiza-Krise trat Baron Ende 2019 mit zwei weiteren Abgeordneten aus dem FPÖ-Klub aus. Das Trio bildete für die Partei von
Ex-FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache einen eigenen Klub. Bei der Wahl 2020 scheiterte der Einzug von Strache, Baron und seinen Mitstreitern aber klar. Aktuell ist Baron Klubvorsitzender des Teams HC Strache in der Bezirksvertretung Donaustadt
Senol Akkilic
Der türkischstämmige Jugendarbeiter war von 2010 bis 2015 grüner Gemeinderat. Um zu verhindern, dass der grüne Koalitionspartner mit der Opposition ein minderheitenfreundliches Wahlrecht beschließt, soll 2015 die SPÖ Akkilic bewogen haben, die Seiten zu wechseln. Somit war die Mehrheit gegen die SPÖ dahin. Akkilic zog nach der Wahl 2015 nicht mehr in den Gemeinderat ein. Er beendete seine Polit-Karriere und ist heute laut SPÖ für die Volkshilfe tätig.
Wolfgang Aigner
Der Pädagoge aus der Brigittenau war von 2004 bis 2011 ÖVP-Gemeinderat. 2011 verließ er den ÖVP-Klub aufgrund von Differenzen mit der Parteispitze. Der fortan wilde Abgeordnete wurde 2014 Mitglied der FPÖ, für die er auch bei der Wien-Wahl 2015 erfolgreich kandidierte. Die folgenden Jahre verbrachte er eher unauffällig als FPÖ-Mandatar im Gemeinderat. Im Zuge der schweren
FPÖ-Niederlage 2020 verfehlte er den Wiedereinzug. Aktuell ist Aigner laut FPÖ wieder als Lehrer tätig.
Hinzu komme nicht selten ein gewisser Argwohn gegenüber dem neu hinzugestoßenen Parteikollegen: „Wer schon einmal die Partei gewechselt hat, könnte dies ja vielleicht ein weiteres Mal tun“, sagt Hofer.
Unter all den Negativbeispielen gebe es jedoch einzelne Fälle, wo der politische Farbwechsel durchaus einen Karriereschub bedeutet habe. „Voraussetzung ist, dass der jeweilige Politiker ein sehr eigenständiges Profil mitbringt“, sagt der Experte.
Grüne Ulli Sima
Als Beispiel nennt Hofer Verkehrsstadträtin Ulli Sima. Sie startete ihre Polit-Laufbahn bei den grünen Studenten und kandidierte für die Öko-Partei bei der Nationalratswahl 1995. Bei Global 2000 erarbeitete sie sich den Ruf einer bestens vernetzten Umweltexpertin, ehe sie 1999 der damalige Parteichef Viktor Klima zur SPÖ lotste. Wobei es für sie in gewisser Hinsicht eine Heimkehr war. War doch ihr Großvater Hans Sima von 1965 bis 1974 Kärntner SPÖ-Landeshauptmann.
Somit wird man wohl eher in der streitbaren Stadträtin Sima als im nunmehr blauen Simmeringer Gemeinderat Kieslich eine Churchill-Epigonin sehen müssen.
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