Es muss ein Abend kurz nach der Einführung des Rauchverbots gewesen sein. Etwa 30 Jugendliche standen in der Stumpergasse in Wien-Mariahilf auf der Straße und auf dem Gehsteig herum. Es wurde geredet und geraucht. Bierflaschen wurden herumgereicht und manche machten Musik mit mobilen Boxen.
Es waren die Gäste des legendären Nachtasyls.
Noch war man die neue Gesetzeslage an jenem Abend nicht gewohnt. Die Securitys am Eingang wussten nicht recht, ob Biergläser mit ins Freie genommen werden dürfen oder nicht; die Nachbarn waren erzürnt.
Plötzlich rasten Polizeibusse heran - etwa genau so viele Polizisten wie Besucher standen sich gegenüber. Etwa 15 Minuten schaute man sich gegenseitig ratlos an. Bis dann einer der Polizisten etwas murmelte wie: "So was werden wir jetzt öfter haben - seid halt ein bisschen leiser."
Die Beamten rückten ab.
Heimat der Heimatlosen
Es war ein Abend wie es zu Hauf gab in dieser Institution nahe der Mariahilfer Straße. Im "Nachtasyl" traf man auf eine eingeschworene, aber vielseitige Community.
Das Lokal bot jedem eine Heimat. Konsumzwang gab es nicht. Vom Obdachlosen, den Asylwerbern, Künstlern und Studenten bis zum Mann in Arbeitshosen oder der Frau mit künstlichen Fingernägeln und blonder Haarverlängerung fühlte sich hier jeder wohl.
Und gleichzeitig hatte man beim Betreten immer das Gefühl, irgendwie etwas Verbotenes zu tun.
Dafür sorgte nicht zuletzt der Eingangsbereich, der durch eine schwere Metalltüre über ein Stiegenhaus mit dem Charme einer Unterführung in den Saal mit seinen beschmierten Holztischen und angemalten Wänden führte. Und auch die Fliegen am WC hatten damit zu tun. (Fliegen gab es dort nämlich immer, die Frage, die bleibt, ist nur: Warum?).
Gleichzeitig standen auf der kleinen Bühne des Nachtasyl immer wieder (plötzlich und völlig unverhofft) US-amerikanische Blues-Bands, die man dann eher im Porgy & Bess vermutet hätte oder lokale DJs, die Stimmung wie im Werk machten.
Der Eintritt zum Nachtasyl war dennoch kostenlos, das tschechische Bier war billig und die Sperrstunde erst in den frühen Morgenstunden.
Das alles ist nun Geschichte. Nach 33 Jahren schließt das Kultlokal seine Pforten - wahrscheinlich für immer.
Zum einen hat das Nachtasyl mit Dan Lestrade erst im vergangenen Jahr einen neuen Betreiber gefunden - der jetzt noch keinen Anspruch auf den Corona-Fixkostenzuschuss hat. Zum anderen wäre laut Lestrade dringend eine Sanierung nötig. Der Keller sei schlicht zu feucht, neue Möbel würden darin sofort kaputt werden.
"Jetzt müsste ein Wunder geschehen"
"Ich kann es mir einfach nicht leisten und einen Kredit bekomme ich nicht", sagt Lestrade zum KURIER. Daher sehe er jetzt keinen Ausweg mehr. Sein Spendenaufruf hätte nicht die erforderlichen Mittel eingebracht. "Ich habe einfach nicht die Reichweite", sagt Lestrade - obwohl sich auch Künstler wie der Nino aus Wien oder Voodoo Jürgens beteiligten.
Die Aktion laufe noch bis Ende der Woche, aber "jetzt müsste schon ein Wunder geschehen", sagt der Gastronom - dann werde er schauen, wie er aus den Mietverträgen rauskommt.
Revolutionäres Beisl
Gegründet wurde das Nachtasyl übrigens 1987 von Flüchtlingen aus der ehemaligen Tschechoslowakei - allen voran von Jiří Chmel, der das Lokal über 30 Jahre lang führte.
Chmel war Teil der tschechischen Bürgerrechtsbewegung "Charta 77" und kam aus politischen Gründen nach Wien. In dem Lokal wurde später die Samtene Revolution und das Ende des kommunistischen Regimes gefeiert.
Der Keller in der Stumpergasse war der Treffpunkt der tschechoslowakischen Diaspora und wurde nach und nach zu einer wichtigen Kulturinstitution. Berühmte Gäste wie - der später erste Präsident der Tschechischen Republik - Vazlav Havel oder auch der spätere Außenminister Karl Schwazenberg sollen dem Lokal Besuche abgestattet haben.
Sogar Nick Cave soll einst in der Bar gesichtet worden sein.
In Film festgehalten
Mit dem Nachtasyl wird übrigens auch das im Erdgeschoß gelegene Tagasyl, das immer wieder für Vernissagen genutzt wurde, geschlossen.
Wen nach dieser Nachricht die Sehnsucht nach der Kultbar packt: Laut Dan Lestrade wurde eben noch Szenen für den Film "Die große Freiheit" von Sebastian Meise dort gedreht. In dem Film wird die Geschichte des homosexuellen Hans Hoffmann anhand seiner Gefängnis-Aufenthalte erzählt.
Wann der Film zu sehen sein wird ist allerdings - auch Corona-bedingt - noch ungewiss.
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