Gumpendorfer Straße: Die umkämpfte Lebensader von Mariahilf
Die Ampel an der Kreuzung von Getreidemarkt und Gumpendorfer Straße schaltet auf Rot. Eine mondän gekleidete Frau kommt in ihrem schwarzen Rover zu stehen. Plötzlich lächelt sie. Und zwar direkt ins Gesicht des Mannes, der neben ihrem Wagen auf seinem Motorrad sitzt. Er ist
15 Jahre jünger, trägt Polizeiuniform – und lächelt zurück. Es ist der Beginn einer großen Liebesgeschichte.
Die Frau im Rover ist Ljuba Welitsch, eine weltweit gefeierte Operndiva. Der Rayoninspektor neben ihr heißt Karl Schmalvogel und ist mit einer Schuhverkäuferin verheiratet – noch.
Zugetragen hat sich die Geschichte im Jahr 1955. Es hätte aber auch gestern sein können.
Denn die Gumpendorfer Straße ist bis heute eine Straße im eigentlichen Wortsinn. Ein Verkehrsweg.
Soll heißen: Hier kann man Auto fahren, zumindest mit Tempo 30. Vom Gürtel bis zur Zweierlinie.
Auf der parallel verlaufenden Mariahilfer Straße – seit sechs Jahren eine Fußgänger- und Begegnungszone – ist das nicht mehr möglich. Abgesehen von der Wienzeile ist die Gumpendorfer Straße im 6. Bezirk somit die einzige direkte Verbindung zwischen Gürtel und Innenstadt.
Und die Wiener nutzen sie gerne: Laut einer Studie aus 2015 sind in manchen Abschnitten der Straße täglich mehr als 10.000 Kfz unterwegs. Das spüren die Bewohner: Der Verkehr sei seit dem Umbau der „Mahü“ mehr geworden, erzählen Anrainer.
Das Verkehrskonzept der Straße ist seit vielen Jahren dementsprechend heiß umstritten – zwischen Bezirksparteien sowie unter Bewohnern und Geschäftsleuten.
Erst vergangene Woche flammte der Konflikt wieder auf: Bezirksvorsteher Markus Rumelhart (SPÖ) will die Straße modernisieren – wie genau, das sollen die Bürger (mit-)entscheiden.
Klar ist für ihn nur: „Zurück in Richtung Tempo 50 wird es sicher nicht gehen.“ Bis das Bürgerbeteiligungsverfahren startet, wird es nun aber noch dauern. Die anderen Fraktionen – originellerweise die Grünen eingeschlossen – legen sich quer.
Viele Interessen
Das kann am nahenden Wahlkampf liegen. Oder daran, dass die Grünen schon 2015 mit einem Konzept – breite Gehsteige, teilweise eine Fahrspur weniger – vorpreschten. Und sie sich das Thema nun nicht abspenstig machen lassen wollen.
An der Straße, der Lebensader des Bezirks, prallen Interessen aufeinander. Das lähmt. Es hat dazu beigetragen, dass sie nur bedingt mit der Zeit – oder dem Zeitgeist – gegangen ist. Und sich durch eine charmante Mischkulanz auszeichnet.
Langsam ticken die Uhren etwa an der Nummer 84. Herr Ernst, seit mehr als 40 Jahren Inhaber des gleichnamigen Antiquariats, steht am Verkaufstisch und blättert in einer Ausgabe des Wiener Heimatbuchs über Mariahilf.
Hinter ihm: ein Aquarium, in dem Welse ausharren. Rundherum: 40.000 historische Bücher und 60.000 Ansichtskarten.
Die Wiener kennen Herrn Ernst für seine anachronistischen Werbetafeln in den U-Bahn-Stationen. Diese preisen Original-Ausgaben von alten Zeitungen als „Geburtstagsidee“ an.
Obwohl Herr Ernst im Öffi-Netz auf Kundenfang geht, kommen viele mit dem Auto zu ihm. „Wir werden von Spezialisten aus den Bundesländern angefahren. Diese Kunden will ich behalten.“
Die rot-grüne Stadtregierung mache ihm das nicht leicht. „Durch die Politik gegen die Autofahrer haben wir zahlungskräftige Kunden verloren. Eine Umgestaltung kostet uns die letzten Parkplätze.“ Er klappt das Buch zu.
Gesucht hat er ein historisches Foto von der Gumpendorfer Straße – ohne Erfolg. Auch in den Schachteln mit Postkarten wird er nicht fündig. Erklärung: Üblicherweise fotografiere man halt Orte, wo es etwas zu sehen gibt.
Geschichtsträchtig
Das zeigt, wie unklar ist, was die Gumpendorfer Straße – abseits der Fahrbahn – definiert. Klarer ist, was sie nicht ist. Offiziell ist sie etwa keine Hauptgeschäftsstraße – obwohl Boutiquen, Händler und Traditionsbetriebe hier angesiedelt sind.
Sie ist auch keine echte Gastromeile – wenngleich hier Asia-Fusionsküche mit Cola-Rot oder Hausmannskost mit bunten Cocktails hinuntergespült werden können. Die Straße steckt zwischen den Welten fest.
Dabei ist sie geschichtsträchtig: Zur Römerzeit lag an ihrem Verlauf eine wichtige Ausfallstraße nach Westen. Später gründete sich eine der ältesten Vorstädte – Gumpendorf.
Ab dem 11. Jahrhundert gruppierten sich um Straße, die schon viele Namen trug (etwa Große Kothgasse) die Häuser, der Adel hatte hier seine Sommerresidenzen. Und das, obwohl die Straße mit ihrer leichten Steigung nicht ideal für Fuhrwerke war.
Das Wort „Gumpe“ stammt von „Tümpel“ – und erinnert an die Zeit, als der nahe Wienfluss noch oft Hochwasser führte.
Ab 1891 fuhr die Pferdeeisenbahn durch die Straße, später die elektrische Straßenbahn 57. Einen Teil der Route deckt heute der Bus 57A ab, die Gleise sind zubetoniert.
Manfred Pichler verbringt jeden Donnerstag an dem geschichtsträchtigen Ort. Vor der Kirche stellt der Mostviertler am Wochenmarkt aus. Vor ihm sind Mehl- und Nudelpackerl drapiert.
Wenn er herkommt, finde er oft keinen Platz für seinen Lieferwagen. Sollten die Parkplätze weniger werden, könnte er für ihn „gefährlich“ werden, sagt Pichler. Anders für die Kunden. „90 Prozent kommen zu Fuß oder mit dem Bus“, sagt er.
„Schön ist das Grün ja“, findet Klaus Kuchling, der Juniorchef des gleichnamigen Elektrofachgeschäfts. Durch die Auslage blickt er auf die Bäume vor der Kirche. Sollte mehr Grün kommen, dann nur in „vernünftiger“ Form, findet er.
Auf Fassaden, nicht statt der Parkplätze. „Man darf die Autos nicht einschränken.“ Wer eine Waschmaschine kauft, müsse sie auch abholen können. „Wir liefern viel“, sagt Kuchling. „Aber wenn meine Mitarbeiter in den 7. Bezirk müssen, nehmen sie die Sackrodel und gehen. Man kann nirgends parken.“
Er sage all das „nur als Geschäftsmann“, betont Kuchling nach dem Interview. Warum?
Die politische Lage in der Familie ist speziell. Er und sein Vater sitzen im Bezirksparlament – der Junior für die FPÖ, der Senior für die SPÖ. Die Neugestaltung ist ein heikles Thema.
Profitieren würde die Gastronomie: Die Wirte hätten mehr Platz für ihre Schanigärten, sagen sie. Vor allem die hippen, jungen, die sich – von der Disco Volante bis zum Brass Monkey – hier angesiedelt haben, könnten so noch mehr Publikum anlocken.
Im Brass Monkey haben die einzigen Gäste das Gespräch mitbekommen – und reden mit. Dass sich im Grätzel etwas tut, ist Lisa und Jost Winkler aufgefallen. Morgens hat die Touristen aus Bochum der Baulärm vor ihrer Unterkunft in der Otto-Bauer-Gasse aus dem Schlaf geholt. Die Quelle: die letzten Arbeiten für die Fußgängerzone in der Königseggasse.
In der Gumpendorfer Straße wäre eine Fußgängerzone wohl schwierig, sagt Jost, schaufelt Rohrzucker in seinen Kaffee und schaut aus dem bodentiefen Fenster. Er tut das mit fachkundigem Blick. Er und Lisa sind Raumplaner. („Den Stephansdom haben wir nicht gesehen, dafür die Seestadt Aspern.“)
Sie sind skeptisch, ob eine Verkehrsberuhigung klappt. „Wahrscheinlich versuchen die Leute trotzdem, hier durchzufahren“, sagt Jost. Wenn es dann staut, erzeuge das noch mehr Feinstaub.
Allerdings könnte der Stau auch weitere Liebesgeschichten nach sich ziehen. Der Flirt von Welitsch und Schmalvogel wiederholte sich 1955 wegen einer „roten Welle“ an den folgenden Kreuzungen. Er mündet in einer Ehe, die immerhin zwölf Jahre hielt.
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