Eskalation in Wiener Bandenkrieg: Polizei spricht von "neuer Qualität der Gewalt"
Schwer bewaffnete Cobra-Beamte, Blaulicht und zivile Ermittler, die man nur an unauffälligen Ohrsteckern erkennt, die sie mit Kollegen verbinden. Es ist ein Anblick, der mitten in Wien normalerweise für Unbehagen sorgen würde. Am Mittwochabend, unweit der U6-Station Jägerstraße in der Brigittenau, scheint das Polizeigroßaufgebot aber niemanden aus der Ruhe zu bringen.
An dieser Stelle wurde im April des Vorjahres ein Algerier von vier Landsmännern mit einer Machete hingerichtet. Vergangene Woche kam es wenige Meter weiter im Anton-Kummerer-Park zu einer nächtlichen Straßenschlacht zwischen Syrern und Tschetschenen, bei der Schüsse fielen und drei Personen verletzt wurden. Die Blutspuren sind jetzt noch zu sehen.
Der jüngste Vorfall veranlasste die Wiener Polizei in der Nacht auf Donnerstag zu einer groß angelegten Schwerpunktaktion. Denn Anrainer und Exekutive sind sich einig: der seit Monaten schwelende Konflikt zwischen Syrern und Tschetschenen in Wien hat eine neue Eskalationsstufe erreicht.
"Hier passiert fast jeden Abend etwas. Man weiß mittlerweile, welchen Gruppen man aus dem Weg geht", erzählt ein junger Rumäne, der anonym bleiben möchte, um nicht selbst ins Visier der "Gangs" zu geraten.
Am Mittwochabend ebenfalls vor Ort ist Dietmar Berger, stellvertretender Leiter des Ermittlungsdienstes im Landeskriminalamt Wien. Der erfahrene Kriminalist beschönigt die Situation nicht: "Wir hatten an aufeinanderfolgenden Tagen zwei Zwischenfälle, die in einem Zusammenhang stehen dürften. In der Brigittenau sind Schüsse gefallen, am Meidlinger Bahnhof ist es zu einer Messerattacke mit vier Verletzten, darunter ein Schädelbruch, gekommen."
Schüsse aus scharfer Waffe
Bandenkriminalität an sich sei nichts Neues, die Attacken der vergangenen Tage hätten aber eine neue Qualität erreicht, so der Ermittler: "Nach dem Schusswechsel am Freitag haben wir 9mm-Hülsen gefunden, es waren also neben Messern, Pfefferspray und Schreckschusspistolen auch scharfe Waffen im Einsatz. Das macht die Situation nicht ungefährlicher."
Dass am nächsten Tag in Meidling - offenbar ein Vergeltungsschlag - Afghanen attackiert wurden, erklärt der Polizist so: "Die Tschetschenen sehen das nicht so eng, ob Syrer oder Afghane, sie sehen vor allem Araber." Grund für die jüngsten Gemetzel soll eine Mischung aus Revierkampf, Nationalstolz und falsch verstandener Männlichkeit sein.
Eine Mischung, die zunehmend das Leben anderer Migrantengruppen in Wien erschwert. "Wir werden bereits zum zweiten Mal in dieser Woche von der Polizei kontrolliert", erzählt eine Gruppe junger Männer mit türkischen Wurzeln im ebenfalls in der Brigittenau gelegenen Allerheiligenplatz. Sie verdrehen die Augen, als die Polizisten nur ein paar Parkbänke weiter die nächste Zusammenkunft unterbricht.
Die Beamten, die aufgrund der angespannten Lage derzeit präventiv an Hotspots in der ganzen Stadt unterwegs sind und dabei auf Verstärkung aus den Bundesländern setzen, fackeln nicht lange: In dem auch nach 22 Uhr noch belebten Park werden Ausweise mit Taschenlampen angeleuchtet, dann wird standardmäßig gefragt, was man um diese Uhrzeit noch draußen mache und ob etwas Verdächtiges beobachtet worden sei - die Exekutive nimmt die jüngsten Straßenschlachten offensichtlich sehr ernst.
Dass in Kanälen des Nachrichtendienstes Telegram täglich neue Gewaltaufforderungen zwischen den involvierten ethnischen Gruppen geteilt werden, heizt die Stimmung zusätzlich an. Auslöser der ausufernden Gewalt waren offenbar zunächst kleinere Streitereien und Schlägereien im öffentlichen Raum. Als dann am 3. Juni im Arthaberpark in Favoriten eine Aussprache geplant war, kippte die Stimmung endgültig. Ein Tschetschene wurde vom einem Syrer schwer verletzt und erlitt Stich- und Schnittwunden im Genitalbereich, am Oberkörper und im Gesicht.
"Tschetschenen fühlen sich bedrängt"
Der damals schwer verletzte 29-Jährige war laut Polizei maßgeblich in die Attacke vergangenen Freitag involviert. Die Wiener Tschetschenen sollen sich im Vorfeld zunehmend bedrängt gefühlt haben. "Das wollten sie sich nicht mehr gefallen lassen", so Berger.
Obwohl der Beschuldigte die Aussage verweigert, wisse man, dass er zumindest Personen mit dem Auto zu der Straßenschlacht geführt habe. Der Tschetschene ist den Ermittlern zufolge beruflich voll in Österreich integriert und passe nicht so richtig in das Bild der nun immer wieder genannten Clan-Kriminalität.
"Er ist der erste Verdächtige, der festgenommen werden konnte und sitzt jetzt in der Justizanstalt Josefstadt in Untersuchungshaft", schilderte Berger den ersten Ermittlungserfolg in dem Fall. Dem Kriminalisten zufolge könnten weitere Festnahme bevorstehen, aktuell sei die Polizei noch mit der Auswertung von Videomaterial sowie Zeugeneinvernahmen beschäftigt.
Keine deutschen Verhältnisse
Mehrfach wurde am Mittwoch betont, dass es sich bei den jüngsten Gewalteskalationen nicht um klassische Clan-Kriminalität nach deutschem oder schwedischem Vorbild handle. Zwar sei bekannt, dass sich syrische und arabische Migranten als 505er- oder 515er-Gruppe bezeichnen - Codes für syrische Schleusernetzwerke und arabischen Nationalismus -, wirklich organisiert würden sie dabei aber nicht vorgehen. "Das ist eher ein loser Zusammenschluss von Menschen, teils Asylwerbern", beschreibt Berger die Strukturen im Hintergrund. Diese seien nicht mafiös, es gehe eher darum, "die Straße zurückzuerobern".
Bei den Syrern handelt es sich offenbar vor allem um jüngere Männer, die noch nicht lange im Land sind. Das deckt sich auch mit der Einschätzung von Integrationsexperten, die von kriegsgeschädigten jungen Männern sprechen, die in ihrer neuen Heimat auf Nationalstolz setzen.
Während der Chefermittler seine Einschätzung mit den Medien teilt, wird in unmittelbarer U-Bahn-Nähe bereits die nächste Gruppe junger Männer kontrolliert. Messer und Schlagringe sucht man bei ihnen aber vergeblich. Es handelt sich um eine sechsköpfige Gruppe jugendlicher Österreicher mit türkischen Wurzeln. Sie treffen sich in der Nähe meistens zum Fußballspielen.
Von der momentanen Situation sind sie ziemlich genervt: "Ab 22 Uhr können wir nicht mehr raus. Und selbst vorher rufen unsere Eltern dauernd an, ob alles in Ordnung ist", erzählt der 17-jährige Ömer. "Die Polizei kontrolliert uns auch ständig und will wissen, was wir machen. Bei der Hitze können wir ja nicht den ganzen Tag in der Wohnung sitzen", ergänzt sein Freund Musti.
Dass momentan alle "nervös" sind, kann die Gruppe allerdings nachvollziehen. Am Fußballplatz sei man bereits von Syrern bedrängt worden, "weil wir Türken sind". Nach jüngsten Ausschreitungen in der Türkei, die sich gegen Syrer richteten, würden die syrischen Flüchtlinge hier nun zeigen wollen, "wie stark sie sind", glaubt die Gruppe.
"So schlimm ist es erst seit ein paar Monaten. Seit diese 505er da sind", ist Musti überzeugt, der noch einmal betont, dass er keinen Stress will, sondern einfach mit seinen Freunden den Sommer genießen.
"Den Frieden stellt die Polizei sicher"
Dass laut mehreren Medienberichte ältere Syrer und Tschetschenen den aktuellen Streit zwischen den Communities beilegen wollen, begrüßt die Polizei prinzipiell, wenngleich Berger klar macht: "Auf unsere Arbeit wird das keinen Einfluss haben. In Österreich stellt die Polizei den Frieden sicher."
Zudem bezweifelt der Chefermittler, dass es die wirklichen "Capos" in diesem Fall überhaupt gibt. Es handle sich eher um "Rädelsführer". Man arbeite aber mit der Community genauso wie mit Sozialarbeitern zusammen, um das Problem in den Griff zu bekommen.
Denn eines werde es in Wien bestimmt nicht geben: "Wir wollen keinen Zonen in Wien, wo sich niemand mehr hintraut. Dagegen gehen wir mit voller Präsenz vor." Zumindest in der Nacht auf Donnerstag konnten Ausschreitungen so verhindert werden. Bis auf kleinere Amtshandlungen blieb es ruhig.
Die jungen türkischen Männer am Allerheiligenplatz hoffen, dass es so bleibt: "Wenn die hierherkommen, Krieg spielen und auf starker Mann machen, wirft das ein schlechtes Licht auf alle Ausländer", sind sie überzeugt.
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