Lost Places: Auf der Suche nach verborgenen Zeitkapseln
Wer Flugzeuge mag, dessen Augen gehen über, wenn er die graue Halle am hinteren Ende des Vöslauer Flugplatzes (NÖ) betritt. Ein paar Hobbypiloten haben sich hier dank einer Sondergenehmigung einquartiert, um an ihren historischen Maschinen zu schrauben. Gleich am Eingang: Eine immer noch flugtaugliche Piper Cub, daneben ein Boeing-Stearman-Doppeldecker der US Navy.
Geht man weiter in den eigenartig schmalen und langen Betonbau hinein, wird man von der Masse an alten Flugzeugteilen überwältigt, die an den Wänden gestapelt sind: Propeller, Leitwerke und Tragflächen aller Fabrikate und Epochen, ja sogar eine Bordküche eines AUA-Airbus hat sich hierher verirrt.
Einen unscheinbaren, völlig verrosteten Motorblock übersieht man fast in dem bunten Durcheinander. Dabei weist gerade er auf die düstere Geschichte dieses Baus hin: Der Motor trieb einst eine Me 109 an, den gefürchteten Jagdflieger der deutschen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg. Er wurde bei Erdarbeiten auf dem Flugplatz-Gelände gefunden und erinnert daran, dass sich hier bis 1945 ein Luftwaffen-Stützpunkt befand. Und die seltsame, 100 Meter lange Betonhalle diente zum Einschießen der Bordkanonen neu gefertigter Maschinen.
Kaum jemandem würden die unscheinbaren Einbuchtungen im Betonboden auffallen, an denen die Flieger mit Lederriemen festgezurrt waren, um bei voll laufendem Motor in den Kugelfang am anderen Ende des Gebäudes zu feuern. Doch Robert Bouchal weiß auch über solche leicht zu übersehenden Details Bescheid. Er hat den NS-Fliegerbunker in den vergangenen Jahren minutiös erforscht, vermessen und fotografiert. Wie auch die anderen NS-Baurelikte auf dem Flugplatz. „Wir haben es hier mit einem klassischen Lost Place zu tun“, sagt er. „Einem vergessenen Ort, zu dem nur ganz wenige Menschen überhaupt einen Zutritt haben.“
Bouchal weiß, wovon er spricht: Seit zwei Jahrzehnten klettert er gemeinsam mit dem Historiker Johannes Sachslehner in vergessene Keller, dunkle Gänge und unheimliche Ruinen. Die Ergebnisse ihrer Entdeckungsreisen haben sie in mittlerweile zwölf Büchern dokumentiert, das jüngste ist soeben erschienen.
Sie verkaufen sich wie die warmen Semmeln, wie generell Bücher zu geheimnisvollen Baurelikten und vergessenen Orten (neudeutsch: Lost Places), die in den vergangenen Jahren in großer Zahl auf den Markt kamen.
Abenteuerlust
„Wir leben in einer Zeit, in der alles total abgesichert ist, in der es nichts mehr zu entdecken gibt. Der Mensch sucht aber das Abenteuer“, erklärt sich Bouchal, der mit seiner mitreißenden Art zu erzählen auch einen guten Reiseführer abgeben würde, dieses Phänomen.
Höhlenforscher
Schon als Zwölfjähriger, als er seine erste Spiegelreflexkamera geschenkt bekam, durchforstete er Ruinen und verlassene Fabrikshallen, „lange bevor es den Begriff Lost Places überhaupt gab“. Da war es nur logisch, dass er später Höhlenforscher wurde. „Doch irgendwann war der Sättigungsgrad erreicht und ich begann mich für urbane Höhlen zu interessieren. Wenn ich irgendwo einen offenen Kanaldeckel sehe und mein Körper durch die Öffnung passt, klettere ich rein.“
In dem eher ruhigen Sachslehner, Historiker und Verlagslektor, hat er für seine Buchprojekte die ideale Ergänzung gefunden. Ihn fasziniert der unverfälschte Blick in die Vergangenheit, den Lost Places erlauben. Wie eben der Bunker am Vöslauer Flugplatz, der seit dem Zweiten Weltkrieg nahezu unverändert blieb. „Lost Places sind wie Zeitkapseln, sie haben etwas Wildes, Unmittelbares“, sagt Sachslehner. „Ganz anders als die geputzten und einsortierten Objekte im Museum.“
Mittlerweile hat das Autorenduo so einen Bekanntheitsgrad, dass sie Hinweise aus der Bevölkerung bekommen, welche geheimen Orte sie noch erforschen könnten.
Auf diese Weise gelang ihnen vor einigen Jahren ein Zufallsfund, von dem Bouchal heute noch voller Begeisterung erzählt: Ein gigantischer Weinkeller, zehn Meter unterhalb des Kellers des Palais Chotek in der Wiener Währinger Straße. Gerade noch rechtzeitig konnten die beiden die Gewölbe filmen und fotografieren, ehe sie im Zuge eines Umbaus mit Beton zugeschüttet wurden. Damit sind sie auf ewig unzugänglich.
Vielleicht hätten sie noch mehr solcher Entdeckungen gemacht, doch manchmal schieben die Besitzer der Lost Places dem Forscherdrang des Autorenduos einen Riegel vor. „Sie haben einfach Angst, dass wir Scharen von Neugierigen anlocken, wenn wir darüber schreiben“, sagt Bouchal.
Es gehört zum Ehrenkodex der Forscher, dass ein Nein der Grundstückseigentümer akzeptiert wird. Keine Selbstverständlichkeit, wie einschlägige Youtube-Videos von Abenteurern zeigen, die ohne Erlaubnis in Gebäude eindringen. „Wir gehen aber immer den korrekten Weg“, betont Sachslehner.
Willkommene Gäste
Oft begrüße man sie aber ohnehin mit offenen Armen, weil die Eigentümer sich freuen, wenn jemand die Geschichte ihres Besitzes erforscht. Dafür sind die beiden auch in Archiven unterwegs, studieren historische Bilder und Pläne und reden mit Zeitzeugen, um ein lebendiges Bild von ihrem Forschungsobjekt zeichnen zu können.
Und das haben sie noch länger vor. „Wir haben genug Material für drei weitere Bücher“, sagt Bouchal. Hört man ihm zu, besteht kein Zweifel, dass sie auch tatsächlich erscheinen.
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