Als Venedig das erste Mal unterging: Eine Lese-Reise
Wussten Sie, dass das Riesenrad einst in Venedig stand? Dass Venedig in nur drei Monaten erbaut wurde und von Wien zu Fuß erreichbar war?
Freilich, die Rede ist nicht von der Stadt in Norditalien, sondern von „Venedig in Wien“: Einer Kopie, die sich um die Jahrhundertwende vom Praterstern bis hinter das heutige Riesenrad erstreckte. Es war nicht weniger als einer der ersten Themenparks der Welt und der Besuchermagnet jener Zeit: Allein im ersten Jahr zählte man zwei Millionen Besucher.
Der Park war fast täglich Thema in den Medien und fand sich auf Postkarten, in Witzen oder Karikaturen wieder.
Man sah es, hörte es, roch es, man wurde sogar nass: Es war ein Gesamtkunstwerk für alle Sinne.
Und doch ist der Kopie passiert, was dem Original seit Langem prophezeit wird: Sie ist versunken – oder zumindest in Vergessenheit geraten. Die Architektin und Bühnenbildnerin Ingrid Erb hat „Venedig in Wien“ nun ein Buch gewidmet.
„Der Aufwand, der dafür betrieben wurde, ist verblüffend“, erzählt sie. 50.000 Quadratmeter maß das heimische Venedig. „In drei Monaten wurden 167 Hauseinheiten hier errichtet.“ Dazwischen gab es Kanäle, Bäume und robuste Holzgeländer, um angeheiterte Besucher vor einem Sturz in den Kanal zu bewahren.
25 Gondeln
Die 25 Gondeln wurden in Venedig gefertigt, mussten aber etwas kürzer sein als die Originale, da die Wiener Kanäle schmäler waren. Und auch die Gondolieri kamen aus Italien: „Hübsche Männer, die die Gondeln auch mal zum Kentern brachten, sodass die Fahrgäste ins Wasser fielen.“ Das war Teil des Vergnügens; in einer Garderobe konnte man die Kleider zum Trocknen aufhängen.
Vergnügungspark
Die Eröffnung fand am 22. Mai 1895 statt. Die Pläne stammten von Oskar Marmorek (Architekt) und Gabor Steiner (Unternehmer)
Neben dem Prater
„Venedig in Wien“ stand in Konkurrenz zum Prater. Der Prater selbst war ab 1766 frei zugänglich, der Kaisergarten vorerst aber noch der Kaiserfamilie vorbehalten – dort, also neben dem Prater, entstand „Venedig in Wien“
5.000 Quadratmeter
waren verbaut, die Fläche betrug insgesamt 50.000. Die Kanäle maßen mehr als einen Kilometer
Um die Besucher bei Laune zu halten, wurden jedes Jahr neue Attraktionen errichtet, etwa 1897 das Riesenrad, heute eines der Wiener Wahrzeichen.
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Auch technisch war man auf dem neuesten Stand: Der Vergnügungspark war an die Kanalisation, die Hochquellwasserleitung sowie an Gas- und Stromnetz angeschlossen. „Venedig in Wien“ hatte somit fünf Jahre vor der Hofburg und dem Schloss Schönbrunn elektrisches Licht.
Doch Erb erzählt in ihrem Buch nicht nur über den Park, sondern gibt auch Einblicke, was das Leben in jener Zeit prägte und warum „Venedig in Wien“ so ein Erfolg wurde.
Grenzen überschreiten
Das 19. Jahrhundert war eine Zeit der Grenzüberschreitungen, in der Kunst wie im wörtlichen Sinn: In der Malerei kam die Abstraktion auf, in der Musik die Atonalität. „In der Zeit der Industrialisierung und mit Aufkommen der Eisenbahn träumten auch immer mehr davon, zu verreisen“, erklärt Erb.
1869 organisierte zum Beispiel ein Reisebüro in England die erste Pauschalreise (zwischen den nur 17 Kilometer entfernten Städten Leicester und Loughborough, aber immerhin). „Dennoch war ein Venedig-Ausflug für viele nicht leistbar“, so Erb. Umso lieber wurde die Kopie in Wien besucht.
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Natürlich gab es auch vor „Venedig in Wien“ Parkanlagen, die Illusionen oder Spaß boten: Im Schlosspark von Versailles etwa wurde im 18. Jahrhundert ein künstliches Bauerndorf errichtet, in dem elitäre Herrschaften lustwandelnd vom einfachen Landleben träumen konnten. Oder auch Coney Island in New York, wo im 19. Jahrhundert ein klassischer Vergnügungspark mit Achterbahn und Schießbuden entstand.
„Das besondere an ,Venedig in Wien’ war, dass es ein großes Überthema hatte und dass es nicht nur der Elite, sondern allen offen stand. Daher kann man es als einen der ersten Themenparks der Welt bezeichnen“, erklärt Erb.
Nicht zuletzt, so Erb, gebe es zwischen Venedig und Wien „eine Seelenverwandtschaft“: „Das Nebeneinander von Schönheit und Vergänglichkeit, von Prunk und Patina ist typisch für beide Städte.“
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Der Untergang dieses Venedigs dauerte übrigens Jahrzehnte: 1912 ging das riesige Unternehmen in Konkurs. Auf dem Gelände folgten wechselnde Veranstaltungen, 1916 etwa eine Kriegsausstellung, wo Besucher in nachgebaute Schützengräben kraxeln konnten. 1945 brannte das Areal ab – überlebt hat einzig das Riesenrad.
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