"Hidden Vienna": Alte Hüte und charismatische Klofrauen
Wissen Sie, was eine Abtrittanbieterin ist?
Einige Befragte tippten auf eine Frau, die beim Sterben hilft (in Wien durchaus realistisch) oder die beim politischen Rücktritt assistiert (in Österreich eher unwahrscheinlich).
Die Antwort: Eine Abtrittanbieterin war eine Art mobile Bedürfnisanstalt.
Bis ins 19. Jahrhundert waren Frauen, mit zwei Kübeln ausgerüstet, in europäischen Großstädten unterwegs, um gegen Gebühr Menschen zu assistieren, die ihre Notdurft verrichten mussten. Und zwar an Ort und Stelle, in den Kübel, geschützt vor den Blicken anderer nur durch den weiten Mantel der Abtrittanbieterin.
Wieder zum Leben erweckt
Freilich ist der Beruf längst ausgestorben, wie auch jener des Scharfrichters oder des Planetenverkäufers. Im neuen Podcast „Hidden Vienna“ werden sie wieder zum Leben erweckt: Seit Februar stellen Fremdenführer Jascha Novak und Social-Media-Expertin Simone Schedl alle zwei Wochen ausgestorbene und seltene Berufe vor.
„Im Podcast schicken wir die Ohren auf eine Zeitreise“, sagt Schedl. In der ersten Folge geht es nicht nur um den Beruf der Abtrittanbieterin: Man erfährt auch, was ein mittelalterlicher „Prunzscherben“ war, wo sich die schönste öffentliche Toilettenanlage der Stadt befindet (am Graben), und man lernt Wiens charismatischste Klofrau kennen (sie arbeitet im Burgtheater).
Und wer nicht nur die Ohren auf Zeitreise schicken mag, kann auch eine Stadtführung buchen, um in den Spuren der alten Berufe zu wandeln.
Lavendel im Mantel
Bei einer Tour mit dem KURIER durch den 1. Bezirk zeigt Schedl, wo einst die Abtrittanbieterinnen unterwegs waren. Aufgrund fehlender öffentlicher Klos – lange war man ob dieser Neuerung skeptisch –, warteten sie bis ins 19. Jahrhundert in den Seitengassen auf Kundschaft, etwa in der Bräunerstraße.
Online: Eine Reise für die Ohren
Fremdenführer Jascha Novak und Simone Schedl, die im Social-Media- und Influencer-Marketing arbeitet, riefen den Podcast „Hidden Vienna “ ins Leben: Sie erzählen „Geschichten und G’schichteln“ über ausgestorbene, kuriose oder seltene Berufe. Zu finden ist er auf Spotify, Apple Podcast und überall, wo es Podcasts gibt. Kontakt: podcast@hiddenvienna.guide
Offline: Eine echte Tour durch Wien
Neben dem Podcast betreibt Jascha Novak bereits die „Hidden Vienna Tours“ – der Podcast ist praktisch eine weitere Facette der breiten Themenpalette.
Er bietet Touren zu ungewöhnlichen Themen, etwa zu Spionage in Wien, zu den Geheimnissen der Hofburg oder zu den Öffis. Infos und Kontakt: hiddenvienna.guide; info@hiddenvienna.guide
Die Zielgruppe
Sind Wiener genauso wie Touristen – alle, die sich für Geschichte interessieren und Freude an unterhaltsamen Anekdoten haben. Der Podcast erscheint auf Deutsch, hat aber bereits Hörer in aller Welt gefunden: So erreichten Schedl und Novak schon nach den ersten fünf Folgen Rückmeldungen von Zuhörern aus Florida, Norwegen, Thailand und Australien
„Im Mantel, den sie zum Sichtschutz um ihre Kunden gehalten haben, waren Kräuter wie Lavendel eingenäht. Praktisch ein modernes Febreze, um den Gestank etwas zu mildern“, erzählt Schedl und lacht. Freilich war dies nicht eben ein besonders beliebter Beruf.
Fallweise sogar lebensgefährlich war übrigens einst der Job des Politikers. Es empfahl sich, möglichst nicht den Kopf zu verlieren – und zwar im wortwörtlichen Sinn: Immerhin neun Wiener Bürgermeister wurden hingerichtet, zumeist, weil sie sich in Konflikte der Habsburger eingemischt hatten. Was zum Beruf des Scharfrichters führt.
Öffentliche Spektakel
Am Lobkowitzplatz zeigt Novak auf eine Hinweistafel, laut der an dieser Stelle im Jahr 1408 Bürgermeister Konrad Vorlauf enthauptet wurde. Hier, aber auch Am Hof oder bei der Weißgerberlände waren Scharfrichter aktiv. „Bis in die 1860er-Jahre gab es in Wien öffentliche Hinrichtungen, 1950 fand die letzte nicht-öffentliche statt“, erklärt Novak. Mit 1. Juli 1950 wurde die Todesstrafe in Österreich abgeschafft.
Scharfrichter standen außerhalb der Gesellschaft. Nur Josef Lang, der von 1900 bis 1918 in dem Metier tätig war, erlangte eine gewisse Prominenz. „Er war Feuerwehr-Hauptmann, hat ein Kaffeehaus in Simmering geführt und war sehr beliebt“, erzählt Novak.
Mit Mitte 40 orientierte er sich sozusagen beruflich neu und wurde per Dekret zum Henker ernannt. 39 Hinrichtungen führte er durch. Sein Begräbnis am Zentralfriedhof zog Tausende Schaulustige an.
50 weitere Berufe auf der Liste
Dies und noch mehr erzählen Schedl und Novak in ihren ersten fünf Postcast-Folgen. So besuchten sie etwa auch eine sehr alte Silberschmiede. Oder einen Hutmacher: „Bis in die 1950er-Jahre hat jeder einen Hut getragen, aber einige Hutmacher gibt es sogar heute noch“, erzählt Novak. Mehr als 50 weitere Berufe stehen noch auf ihrer Liste.
Demnächst sind etwa Planetenverkäufer und Glückshafner an der Reihe. Planetenverkäufer waren Anfang des 20. Jahrhunderts in Wien unterwegs: Aus einem Bauchladen verkauften sie kleine Glücksbriefchen, die man „Planeten“ nannte. Die Verkäufer zogen die Briefchen aber nicht selbst aus dem Bauchladen: Dies erledigte ein abgerichteter Papagei.
Und was ein Glückshafner tat, verraten Ihnen die Experten in einer der kommenden Podcast-Folgen.
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