Dem Wiener wird ja eine gewisse Neigung zur Vergangenheit nachgesagt. Ob früher alles besser war, sei dahingestellt, fix ist aber: Früher war Wien die fünftgrößte Stadt der Welt – nach London, New York, Paris und Chicago.
Mit 2,08 Millionen hatte Wien im Jahr 1910 den absoluten Höchststand an Einwohnern. Heuer hat die Stadt wieder Chancen, die Zwei-Millionen-Marke zu knacken. In beiden Epochen war starker Zuzug die Ursache für das Wachstum – aber nicht nur. Ein Blick auf die Umstände für diese Entwicklungen.
Das stärkste Wachstum
2022 erlebte Wien das stärkste Bevölkerungswachstum, seit jährliche Daten verfügbar sind (was erst seit 1962 der Fall ist). Zum Großteil ist das auf die Aufnahme von Ukraine-Vertriebenen zurückzuführen: Rund die Hälfte der Menschen, die im Vorjahr nach Wien kamen, stammten aus der Ukraine.
Ein Viertel des Wachstums ist außerdem auf Zuwanderer zurückzuführen, die aus den Ländern stammen, aus denen auch 2015 viele Flüchtlinge kamen (v. a. Syrien, Afghanistan, Irak und Iran).
Mit Stichtag 1. Jänner 2023 lebten 1.982.000 Einwohner in der Stadt. Oder anders gesagt: Nur 18.000 Menschen fehlen, um die zwei Millionen zu erreichen.
Das wäre heuer theoretisch schaffbar: "In normalen Jahren wächst Wien zirka um 10.000 bis 15.000 Menschen", erklärt Ramon Bauer, Leiter der Landesstatistik Wien (MA23). Unter anderem komme es nun drauf an, wie sich die Lage in der Ukraine entwickelt: Wie lange die Menschen bleiben, ob noch mehr kommen, ob viele wieder zurückgehen.
Kriege und Epidemien
Im 19. Jahrhundert waren die Gründe für das Wachstum vielschichtiger. Zum Einordnen der Dimensionen: Rund um das Jahr 1800 lebten nur rund 260.000 Menschen in Wien. Es gab immer wieder Kriege und Epidemien, die die Bevölkerung dezimierten. So starben 1713 geschätzte 2.000 Menschen an der Pest, 18.000 Opfer erlagen von 1831 bis 1873 der Cholera.
Entscheidend für das Wachstum war jedenfalls, dass sich die gesundheitliche Lage enorm verbesserte: Die erste Wiener Hochquellwasserleitung, die im Jahr 1873 in Betrieb ging, war diesbezüglich ein Meilenstein. Das saubere Trinkwasser half, die Verbreitung von Krankheitserregern wie etwa der Cholera einzudämmen.
Generell stieg die Lebenserwartung bei der Geburt im Zeitraum von 1870 bis 1910 von 30 auf 50 Jahre. „Ein enormer Sprung. Und wenn mehr Menschen ein höheres Alter erreichen, steigt natürlich auch die Einwohnerzahl“, erklärt Bauer.
Industrialisierung
Ein weiterer gewichtiger Faktor war die Industrialisierung: Die Landwirtschaft verlor an Bedeutung, Transportwege wurden durch die Eisenbahn revolutioniert, Fabriken benötigten Arbeiter. Die Städte wurden zu Zentren der kapitalistischen Produktion, am Land konnte man mit den günstigen Waren der Massenproduktion nicht mithalten. Daher wanderten viele Menschen aus Europa nach Amerika aus – oder sie zogen ins Zentrum der Monarchie, nach Wien.
Von 1867 bis 1873 kam es zu einem regelrechten "Gründerzeit-Boom". Die jährlichen Wachstumsraten lagen Mitte des 19. Jahrhunderts im Schnitt bei 3,5 Prozent – eine regelrechte Bevölkerungsexplosion. So wurde Wien zur Weltstadt mit zwei Millionen.
Dann folgten zwei Weltkriege und eine Wirtschaftskrise: 1945 lebten noch 1,6 Millionen in Wien. Einen deutlichen Aufschwung gab es erst wieder im 21. Jahrhundert – und 2023 wieder die Chance, zwei Millionen zu erreichen.
Kommentare