Roberto Saviano hatte es bereits Anfang 2020 geahnt. Damals schrieb er in der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“, die Mafia werde von Corona profitieren. Der Autor, der seit Veröffentlichung seines Buches „Gomorrha“ 2006 über die Camorra unter Polizeischutz steht, sollte recht behalten.
Kleinbetriebe in wirtschaftlichen Nöten landeten in den Fängen von mafiösen Kreditgebern mit Wucherzinsen. Oder die Mafia kaufte die Unternehmen gleich – zu günstigen Konditionen, um dann von staatlichen Hilfsgeldern zu profitieren.
Krisen würden der Mafia stets in die Hände spielen, sagt der deutsch-italienische Journalist Sandro Mattioli. Und davon gibt es derzeit genug. Etwa die Klimakrise. Vor Jahren stellte Europol bereits fest, dass die Mafia zunehmend in erneuerbare Energien wie Windparks investiert und dabei zweifach gewinnt, indem sie Ökostromförderungen kassiert und Geld wäscht.
Mattioli kann sich vorstellen, dass auch der Ukraine-Krieg von Vorteil für die Mafia sein könnte. „Viele der Waffen, die im Umlauf sind, könnten in ihre Hände fallen.“ Eine weitere Gefahr berge der Wiederaufbau des Landes. „Dann wird jedes Kapital willkommen sein und man wird nicht so genau hinsehen, woher es kommt.“
Jede gesellschaftliche und politische Veränderung werde von der Mafia aufgegriffen. „Sie hat Gespür für den Zeitgeist“, sagt Mathilde Schwabeneder. Die Journalistin beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Mafia – und ihre Bekämpfung.
Der Begriff: Lange umgibt die Mafiosi der Hauch, „edelmütige Verbrecher“ zu sein. Wobei sie selbst den Begriff Mafia nicht verwenden. Mafioso wird von Intellektuellen und Justizbeamten in Italien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmals gebraucht. Das Wort bedeutet ursprünglich schön, kühn, selbstbewusst. In Wahrheit bedeutet es Erpressung, Folter, Mord.
Die Anfänge: 1838 informiert ein Richter das Justizministerium im Königreich Neapel: Vor allem in Westsizilien existiere eine geheime Bruderschaft. Deren Mitglieder würden sich an Verbrechen beteiligen und einen Fonds zur Bestechung von Beamten unterhalten. Es ist der erste historische Bericht über die Mafia. Die Mafia kennt kein Gründungsjahr, ihr Entstehungsort ist klar: Sizilien.
Der soziale Hintergrund: Seit dem Untergang des Römischen Reies wechselte Sizilien oft die Besitzer. Aber wie in der Antike beherrschen Agrar-Aristokraten über Jahrhunderte das Land. Für sie schuften leibeigene Bauern. Anfang des 19.Jahrhunderts entsteht aus unterdrückten Bauern, Deserteuren, entflohenen Sträflingen und Banditen in den Bergen eine Subkultur der Gegengewalt. Die Grenzen zwischen Staat und Unterwelt verschwimmen.
Neue Strategie
Das Bild vom Mafioso, dessen kriminelle Machenschaften hauptsächlich in der Erpressung von Schutzgeld besteht, stimmt schon lange nicht mehr. Ihre Geschäftsfelder sind breit gestreut: von Drogen- und Waffenhandel sowie Giftmüllentsorgung bis zu Investitionen in die Baubranche, Gastronomie oder eben erneuerbare Energien. Die ’Ndrangheta, Italiens mächtigste Mafia aus Kalabrien, versteht sich seit den 1960er-Jahren zusehends als unternehmerische kriminelle Organisation. „Damals gab es zwei Strömungen. Jene, die weiterhin das klassische Geschäft von Schutzgelderpressungen und Betrug betreiben wollte. Und jene, die sich mehr in legalen Wirtschaftszweigen etablieren wollte. Letztere hat sich durchgesetzt“, erklärt Mafia-Experte Mattioli. Das Konzept geht auf, die ’Ndrangheta prosperiere.
Ein weiterer Bestandteil der neuen Strategie: weniger Gewalt, um unauffällig zu bleiben. Denn ein Attentat führt stets zu einem Gegenschlag des Staates. Und das schadet dem Geschäft. Obwohl die ’Ndrangheta ihre Gegner immer noch blutig verfolgt – erst kürzlich wurden Anschlagspläne auf den Staatsanwalt Nicola Gratteri bekannt – überlegt sie sich nun genau, welchen Preis das hätte. „Man versucht dieses Mittel nicht zu oft einzusetzen“, sagt Mattioli, der selbst wegen seiner Arbeit bedroht wurde.
Auch Rivalitäten zwischen Clans werden immer öfter unblutig gelöst – innerhalb der Organisation mittels koordinierender, übergeordneter Gremien und außerhalb in Form von „Kooperationen auf Projektbasis“, wie es Mattioli formuliert. So arbeite die italienische Mafia mit kriminellen Organisationen aus Albanien, Russland und der Türkei zusammen. „Man arrangiert sich bei kriminellen Dienstleistungen.“ Aufgrund der komplexen Strukturen von Mafiaclans sind die Behörden oft im Hintertreffen. So können Untereinheiten teils autonom agieren. Und wird ein Clanchef festgenommen, tritt rasch ein anderer an seine Stelle.
Der Fall Palizzolo: Der auf Sizilien beliebte Palizzolo war nicht nur Geschäftsmann und Parlamentsabgeordneter in Rom, sondern auch Auftragsmörder und Kopf einer Mafia-Organisation. Er wurde angeklagt, aber 1904 von bestochenen Richtern freigesprochen: der erste spektakuläre Mafia-Prozess.
Schweigegelübde & Ehre: Die Vernetzung von Politik und Justiz sichert der Mafia die Existenz. Und ein Schweigegelübde: die Omertà. Das Wort bedeutet ursprünglich Demut, meint aber auch Treue gegenüber dem Anführer und der Gruppe. Wer mit staatlichen Behörden kooperiert, ist des Todes. Wichtig ist auch der Ehrenkodex. Ein Mann hat die Seinen selber zu schützen. Wird er gekränkt, rächt er sich oder sucht Hilfe beim Patron, dem er dann einen Gefallen schuldig ist.
Vom Soldaten zum Capo: Mafiaorganisationen sind ähnlich wie die römische Legion strukturiert. Man beginnt unten als „Soldat“, kann „Kapitän“ werden. Wer es weiter nach oben schafft, wird Unterboss, dann Boss – also Capo. Dieser hat meist einen Consigliere, einen Berater, an seiner Seite.
Frauen gegen die Mafia
Mit der Ermordung der Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino haben die Menschen begonnen, sich gegen die Mafia zu wehren. Und tun das auch heute noch. „Bei diesem Widerstand sind Frauen ein wichtiger Faktor“, sagt Schwabeneder. Als Mütter, die ihre Kinder erziehen, als Richterinnen, Anwältinnen, Journalistinnen – als Aufdeckerinnen. Das zeigte sich auch bei der Recherche für ihr neues Buch „Sie packen aus“. Da sagt ein Richter zu ihr: „Je mehr Frauen ihnen den Rücken kehren, desto eher wird es sein, die Mafia zu besiegen.“ Der Kampf geht jeden Tag weiter.
In Österreich ist Organisierte Kriminalität in den Paragrafen 278 und 278a des Strafgesetzbuches geregelt. Paragraf 278 umfasst kriminelle Vereinigungen, die Bandenstrukturen aufweisen - darunter fallen laut Farsam Salimi, Strafrechtsprofessor an der Universität Wien, etwa Diebstahls- und Einbruchsbanden.
Paragraf 278a bezieht sich auf mafiaähnliche Strukturen. Merkmale sind etwa Gewinnstreben, Methoden der Einschüchterung, Abschirmung von Strafverfolgungsmaßnahmen. Das Merkmal der politischen Einflussnahme ist nach dem umstrittenen Tierschützer-Prozess von 2010 bis 2011 aus dem Paragrafen gestrichen worden. "Damit wurde klargestellt, dass nur noch Organisationen, die auf Gewinn ausgerichtet sind, kriminelle Organisationen sein können", sagt Salimi.
Generell falle ihm aber auf, dass die Grenzen zwischen gewinnorientierter, organisierter Kriminalität und politisch ausgerichteter immer mehr verschwimmen. "Terroristische Vereinigungen sind oft auf kriminelle Organisationen. Man denke an den IS, der Gelder lukrieren muss, um seine terroristischen Ziele zu finanzieren."
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