"Griaß di": Warum in den Bergen Brasiliens Tiroler Dialekt gesprochen wird
Es waren die Schmetterlinge. Sie brachten Insektenforscher Hubert Thöny aus Nassereith, Tirol, vor 35 Jahren nach Brasilien. Er fuhr durchs Land, erweiterte seine Sammlung. Zur selben Zeit lernte er seine spätere Frau kennen. Mit ihr lebte er 1996 im südöstlichen Minas Gerais, als er erstmals von einer besonderen Siedlung im Nachbarbundesstaat Espírito Santo hörte: Colonia Tirol.
Er reiste hin – und war begeistert. „Ich wohnte im brasilianischen Hinterland, da sprach niemand Deutsch. Dann kam ich in die Colonia Tirol, und man begrüßte mich mit ‚Servus‘ und ‚Griaß di‘“, erinnert sich der heute 65-Jährige lachend für den KURIER zurück. Dazu sei es ein „El Dorado“ zum Schmetterlinge-Fangen gewesen, es zog ihn immer wieder hin – bis er ab 2000 für zehn Jahre den Gasthof dort übernahm.
Tiroler Orte in Südamerika sorgen bis heute für Verwunderung. Der Bekannteste ist Dreizehnlinden im Süden Brasiliens – ein Projekt, das 1933 unter dem damaligen österreichischen Landwirtschaftsminister Andreas Thaler entstand, mit Unterstützung von Ständestaat-Kanzler Engelbert Dollfuß.
Dreizehnlinden
Bis heute erhalten die ungefähr 8.000 Einwohner Tiroler Traditionen, von kitschigem Alpenbarock über Lederhosen und Blasmusik bis hin zur Holzschnitzerei. Und sie verdienen damit, der skurrile Ort ist bei Touristen beliebt.
„Insgesamt zählen wir in Brasilien 96 Orte bzw. Ortsteile, die Tirol heißen oder eindeutig als Tiroler Dörfer identifiziert sind“, weiß der Historiker Christian Cwik, der an der Uni Graz u. a. lateinameranische Geschichte lehrt. Auch in Paraguay, Argentinien und Peru seien ihm „Tirols“ bekannt.
Dreizehnlinden ist in dieser Liste die große Ausnahme – was den Erfolg, aber auch das Entstehen angeht. Die ersten derartigen Siedlungen in Brasilien entstanden bereits viel früher, im 19. Jahrhundert, als das Land mit der Habsburgerin Maria Leopoldine eine österreichische Kaiserin hatte.
Bittere Armut
Tirol war in dieser Zeit von Armut geprägt. In einigen Gegenden war es in der Bauernschicht Usus, dass der Erstgeborene den Hof erbte und die oft vielen Geschwister leer ausgingen. Zudem sei die Zeit unter Kaiser Franz Joseph nicht für alle angenehm gewesen, Monarchiegegner etwa.
Das alles dürften Gründe gewesen sein, warum die Tiroler das Land verlassen haben. „Wenn du keine Zukunft hast, überlegst du, wo du hingehst. Das waren Wirtschaftsflüchtlinge“, sagt Experte Cwik.
Nur, dass Brasilien sich – anders als viele Länder, in die heute eingewandert wird – über die Migranten aus Österreich freute. Das Land erklärte sich 1822 von der portugiesischen Kolonialmacht für unabhängig und suchte danach händeringend nach Einwohnern für seine große, weitestgehend leere Fläche.
Ideal des Europäers
Laut Cwik wollte man aber nicht irgendwen holen: „Lateinamerika wollte seine Bevölkerung ‚aufhellen’. Man suchte sich die Einwanderer so weiß wie möglich und am besten noch katholisch.“ Denn das Ideal des fleißigen Europäers habe es bereits gegeben, es wurde mit der Hautfarbe verbunden.
Und so bewarben Agenturen das Leben in Brasilien, organisierten die monatelange Schiffsreise. Jene Einwanderer, die nicht gleich an Gelbfieber oder Malaria starben, erhielten Land. Viel mehr, als sie sich Zuhause erträumen hätten können. Den Wert arbeiteten sie einfach ab, selbst Sklaven konnten sie sich nehmen.
Tiroler siedelten sich in Bergen an
Die Europäer kamen in mehreren Wellen, Tiroler gingen – wenig überraschend – in die Berge. So entstand auch die Colonia Tirol, in der Schmetterlingssammler Thöny lebte. Die Tiroler waren dort lange abgeschottet, weshalb der Dialekt in der Streusiedlung erhalten blieb. Ab Ende der 1990er öffnete sie sich gegenüber Brasilien, man heiratete Einheimische.
Geld aus Österreich
Das Land Tirol baute Straßen, Schulen, Kulturzentren. Wie viel Geld bereits in solche Projekte floss, konnte die Landesregierung auf Anfrage nicht beantworten. Es sei ihr aber noch immer ein Anliegen, Auswanderergemeinden zu unterstützen und die Tiroler Identität dort zu erhalten.
In der Colonia Tirol stirbt genau die langsam aus. Immer weniger Menschen sprechen Deutsch, Sprachkursangebote sind gescheitert. Die Jungen ziehen weg, einige nach Österreich.
Auch Hubert Thönys Sohn lebt heute in dem Land, das der Vater einst verließ. Er selbst hat die Colonia Tirol vor Jahren aus privaten Gründen verlassen, in Brasilien ist er aber geblieben.
„Die Abwanderung wird sich nicht aufhalten lassen, die Möglichkeiten sind zu begrenzt, die Siedlung ist zu abgeschottet“, meint er.
Ob man stärker versuchen sollte, die Tiroler Kultur dort aufrechtzuerhalten? „Ich wüsste nicht, warum es wichtig wäre.“ Ein faszinierender Ort sei es aber allemal.
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